12062020 — Eine Analyse
06.07.2020
Ursprünglich veröffentlicht: 09.01.2020
Dieser Text setzt sich äußerst kritisch mit der geplanten Veranstaltung 12062020 im Berliner Olympiastadion auseinander. Es ist eine relativ trockene aber hoffentlich trotzdem verständliche Analyse der Kampagne und der erhofften bzw. erzielbaren Wirkung. Es ist kein Pep-Talk, kein Hochgejazze, keine Emotionalisierung, wie die Kampagne, auf die ich mich beziehe, darum klingt es vielleicht zu negativ, sicherlich etwas desillusionierend. Ich möchte allerdings ausdrücklich vorwegschicken, dass ich die Veranstaltung nicht rundweg ablehne — ich denke durchaus, dass etwas Positives dabei entstehen kann. Ich setze mich aber für eine realistische Betrachtung ein, da ich andernfalls die Gefahren für die soziale und die Klimabewegung und das Vertrauen in die Demokratie als unverhältnismäßig hoch einschätze.
„Es geht um die Zukunft unserer Zivilisation und wie wir zusammen die größte Krise der Menschheit lösen können. Die Lösung gibt es jetzt bei Startnext zu kaufen.“ Diese zwei Sätze fallen exakt so innerhalb der ersten 13 Sekunden des Teaser Videos. Ich habe da nichts aus dem Kontext gerissen, nichts weggelassen und nichts hinzugefügt. „So billig war die Weltrettung noch nie“ sagt kurz darauf Luisa Neubauer. Angesichts dieses, an Größenwahn kaum zu überbietenden Statements, hat sich das Organisations-Team und die Veranstaltung in meinen Augen eigentlich sofort schon disqualifiziert. Die Organisatoren können eigentlich selbst nicht an diese äußerst übertriebenen Versprechen glauben, aber sie sagen es, und genau hier liegt das Problem. Die ganze Kampagne ist purer Populismus, astreine Propaganda* oder anders ausgedrückt: ganz normales, modernes Marketing.
Als nächstes wird im Video von einer erfolgreichen Petition für Menstruationsprodukte erzählt. Diese Petition hat den Ausschlag gegeben, die Mehrwertsteuer für diese Produkte von 19% auf 7% zu senken. Was verschwiegen wird, ist dass die Firma der beiden Mitinitiatoren zusammen mit dem NEON Magazin eine eigene Petition mit gleichem Inhalt startete, anstatt die bestehende Petition zu unterstützen. „Nicht so toll war, dass [Firma X] komplett ihr eigenes Ding durchgezogen haben.“ Sagen die Initiatorinnen der ursprünglichen Petition im Vice Interview. Die Firma, deren Name hier nicht fallen wird, aus Gründen, auf die ich noch kommen werde, ist unter Anderem genau in diesem Geschäftsfeld tätig. Philip Siefer, einer der Initiatoren und Geschäftsführer der Firma, geht im Interview mit Tilo Jung auf diese Situation ein. Hier erzählt er auch die ganze Geschichte mit den zwei Petitionen von sich aus, ist aber bei Nachfrage von Tilo verwirrt, dass im Video ein anderer Eindruck entsteht. „Das sagen wir aber nich‘ in dem Video, da haben wir voll drauf geachtet, weil das ja nicht stimmen würde.“ Oft würden ja Dinge verkürzt dargestellt, beschwert er sich und merkt nicht, dass die unzulässige Verkürzung dieser Geschichte, sowie des demokratischen Prozesses in diesem Fall ja von ihm und dem 12062020 Team ausgeht. Im weiteren Verlauf will er dann partout nicht einsehen, dass die Darstellung in dem Kontext irreführend ist. Aber Marketing kann er, davon ist er überzeugt.
Als nächstes wird in dem „Werbe Video“ (Siefer) der Ablauf des Verfahrens von der Petition zur Gesetzgebung wie folgt zusammengefasst: „Wir holen unser Handy raus und unterschreiben eine Petition nach der anderen. Und die Gesetze werden geändert und die Welt guckt uns zu, wie wir Veränderung in Lichtgeschwindigkeit erreichen.“ Diese bis zur Lächerlichkeit verkürzte Darstellung lässt jedem, der ein Minimum an politischer Bildung besitzt, die Nackenhaare zu Berge stehen. Anders ausgedrückt: Demokratie funktioniert sehr langsam, und das ist auch gut so. Unsere Demokratie wäre dennoch schnell genug, um ausreichende Maßnahmen gegen die drohende Klimakatastrophe zu treffen. Dass die Politik es trotzdem nicht tut, hat andere Gründe als die Trägheit des Systems. So funktioniert es schlicht und einfach nicht. Christopher Lauer nennt ein konkretes Gegenbeispiel im Tagesspiegel: „Der deutschen Politik war 2009 auch eine Petition gegen das sogenannte Zugangserschwerungsgesetz egal, die im Online-Petitionssystem des Bundestages in vier Tagen das notwendige Quorum von 50.000 Stimmen erreichte.“ Dieses Gesetz wurde beschlossen und in Kraft gesetzt, aber nie angewendet — sicher nicht wegen der Petition, eher wegen rechtlicher Bedenken. Der Politik waren außerdem hunderttausende, ja teilweise über eine Million Demonstranten egal, die im Rahmen von Klimademonstrationen, gegen Artikel 13 oder gegen Freihandelsabkommen auf die Straße gegangen sind. Der Petitionsausschuss könnte die Petition gerade deswegen ablehnen, weil die meisten Unterschriften zum gleichen Zeitpunkt, ausgelöst von einer Großveranstaltung, zentral orchestriert von ein Paar wenigen, auf dem Server eingegangen sind. Ganz unabhängig vom Inhalt der Petition, würde ich das in einer funktionierenden Demokratie sogar erwarten. Wer aber in einem Land leben möchte, in dem 50.000 bis 90.000 euphorisierte Menschen, im Rausch des Moments und sicher des einen oder anderen Bechers Alkohol, Gesetze in Lichtgeschwindigkeit erlassen können, der sollte dringend eine Einrichtung für politische Bildung oder einen Arzt zur Überprüfung der eigenen Urteilsfähigkeit aufsuchen. Siefer sagt sinngemäß im Interview, er glaube nicht, die Menschen würden sich von so einer Veranstaltung so euphorisieren lassen, dass sie blind alles unterschreiben, was ihnen vorgelegt wird, das würde nicht in sein Menschenbild passen. Was aber sehr wohl in sein Menschenbild passt ist, dass Leute plötzlich seine Kondome kaufen, weil sie in anderen Verpackungen präsentiert werden, darauf basiert sein Geschäftsmodell.
Damit wären wir beim nächsten Punkt: Der Inhalt der Petitionen. „Wir haben alles ready, bis auf eine Kleinigkeit“ lässt sich dem Video entnehmen. Das ist falsch, selbst, wenn man eine Summe zwischen 1,8 und 2,7 Millionen Euro als Kleinigkeit bezeichnen möchte. Was nämlich ansonsten noch fehlt ist der Inhalt der Petitionen. Und dabei handelt es sich ebenfalls um keine Kleinigkeit, nicht mal um eine mittelgroße Aufgabe, denn laut dem Video geht es um die „Klimakrise, soziale Ungerechtigkeit, Rassismus, Diskriminierung und all die Probleme, die uns so auf der Seele liegen“. Das ist spätestens der Punkt, an dem die Realität zu ihrer eigenen Satire wird. Wie viel komplett absurde Überzeichnung verträgt so ein Video? Ich fasse zusammen: Inhaltlich ist nichts vorbereitet, der Prozess der inhaltlichen Vorbereitung ist unklar, der Rahmen unbegrenzt, die Deadline in einem halben Jahr. „Wir“ lösen also alle Probleme die „uns“ auf der Seele liegen. Unklar bleibt, wer mit „wir“ und „uns“ gemeint ist — die Organisatoren, die im Video auftretenden Promis, die potenziellen Besucher der Veranstaltung, alle Menschen? Dieses „wir“ ist eine rhetorischer Trick, der dazu verwendet werden kann, eine Verbindung zwischen dem/der Sprechenden und den Zuhörern herzustellen und dabei zu vernebeln wer gemeint ist oder wer handelt (vgl. Martin Haase auf dem 25C3 und 26C3).
Ein kleines Gedankenexperiment ist in Fällen wie diesem hier auch immer ganz hilfreich: Die Methode des gedanklichen Rollentausches. Man stelle sich vor, die AfD hätte dieses Video gemacht, diese Texte geschrieben und würde ein Event planen, auf dem sie in Lichtgeschwindigkeit ein ganzes Füllhorn von Gesetzen anstoßen wollen, um alle Probleme, die „uns“ auf der Seele liegen zu lösen. Würden „wir“ es gut finden, wenn auch nur der Hauch einer Chance bestünde, eine dieser Petitionen könnte es zum Gesetz schaffen?
Damit komme ich zu der dahinterliegenden Methodik, wie der Inhalt der Petitionen entstehen soll.
Sollte das Crowdfunding erfolgreich verlaufen, mischen wir die Karten danach neu und öffnen unser kleines Team für alle Helfer*innen, die gerne am Programm, den Inhalten des 12.06.2020 und in den einzelnen Gremien und Projektgruppen zur Ausarbeitung der Petitionen mitwirken möchten.
- aus dem Media Kit, Punkt IV
Sobald das Crowdfunding erfolgreich abgeschlossen ist, wollen wir ab Januar 2020 Gremien und Arbeitsgruppen aufbauen, in denen Experten sich beraten, Themen und Petitionen ausarbeiten. Darüber hinaus planen wir aber auch eine Online-Plattform aufzubauen, über die sich alle Interessierten ebenso mit Ideen einbringen können.
- aus den Antworten auf die Kritik / FAQ, hier, hier und hier
Diese beiden widersprüchlichen Aussagen zeigen es: Es ist nicht genau klar, wie es weitergehen soll. Nur Experten oder potentiell jeder? Wie läuft die Partizipation im Detail ab, wird es ein Online-Forum geben, eine Diskussions-Plattform? Das wird alles noch erarbeitet. Mich erinnert das sehr an das Vorgehen bei der aufstehen-Bewegung — ich habe dort miterlebt, wie es ist, wenn man versucht eine große Menge an Freiwilligen irgendwie zu koordinieren und eine Art Programm aufzustellen. Es ist ein unglaublich komplexes Unterfangen und aufstehen hat es bis heute nicht hinbekommen. In die Details zu gehen, würde den Umfang dieses Textes vervielfachen, nur so viel: neben technischen Schwierigkeiten und Kosten für die Technik, wird es unvermeidlich eine ganze Reihe menschlicher Probleme geben. Geltungsdrang, verletzte Gefühle, Antipathien, Verständigungs- und Verständnisprobleme werden ihren Tribut fordern. Es ist grenzenlos naiv anzunehmen, dass in dieser Community alles glatt läuft, weil wir ja alle ein gemeinsames Ziel haben, nämlich schnell mal die Welt zu retten. Den Rest werden bezahlte oder ideologische Trolle erledigen. Wer glaubt, die würde es nicht geben, wer glaubt auch die Rechten würden nicht versuchen diese Bewegung zu stören, zu spalten oder zu instrumentalisieren, der darf sich ebenfalls zu den grenzenlos Naiven hinzurechnen. Ich weiß aus praktischer Erfahrung, dass Firmen Agenturen bezahlen, um Konkurrenten in den sozialen Netzwerken schlecht zu machen und dass es genügend Menschen gibt, die Geld so dringend nötig haben, dass sie für diese opportunistischen Agenturen arbeiten. Politische Akteure tun dies mit Sicherheit auch. Wie will 12062020 das verhindern oder filtern? Selbst wenn es jetzt schon ein Konzept gäbe, müsste es so unglaublich genial sein, dass es mir die Schädeldecke wegsprengt, um mich zu überzeugen, dass es auch nur im Ansatz funktionieren kann. Denkt bitte gar nicht erst daran, etwas zu sagen wie: Wir machen da was mit KI. Und schon bevor der erste Ultra-Konservative oder Rechte auch nur in der Nähe der Vorbereitung gesehen wird, noch während ich an diesem Text arbeite, erfüllt sich meine Prophezeiung schon teilweise, als Siefer in dem bereits mehrfach erwähnten Interview mit Tilo Jung, vielleicht halb im Scherz, sagt, Nazis dürften auch kommen, solange sie sich konstruktiv einbringen. Das Thema „Mit Rechten reden“ werde ich hier aussparen. Ich will nur zeigen, dass die Heftigkeit der Reaktion einen Vorgeschmack auf das gibt, was noch folgen wird und was den Prozess erheblich erschweren kann.
Die Alternative zum Basisdemokratischen Ansatz wären Expertengremien. Wenn also die Themenfelder feststehen, was nur ein paar Wochen dauern darf, dann müssen die Experten rekrutiert werden und diese müssen dann innerhalb weniger Wochen die Petitionen ausarbeiten. Die Organisatoren sagen: Es gibt schon Experten, es gibt schon Lösungen. Ja, wahrscheinlich gibt es so viele unterschiedliche Lösungsansätze wie es Experten gibt. Zum demokratischen Prozess gehört, dass die Texte der Petitionen im öffentlichen Raum diskutiert werden, d. h. sie müssen früh genug veröffentlicht werden, um von der Presse und unbeteiligten Experten gelesen und kommentiert zu werden. Geschieht dies nicht, haben die Petitionsteilnehmer also nur selbst kurz Zeit (Tage oder Stunden) um die Texte lesen zu können. Werden die Texte dann ggf. nur von den geladenen Experten im Stadion kommentiert und angepriesen, dann müsste man eher von einer Technokratie mit pseudodemokratischem Anstrich sprechen. Auf Basis des sehr kurzen Zeithorizonts von ca. einem halben Jahr halte ich dieses Szenario allerdings für wahrscheinlich. Ich halte sehr viel von z. B. Maja Göpel, Stefan Rahmstorf, Hans Joachim Schellnhuber, Marc Benecke und Volker Quaschning, auch wenn letzterer sich aus meiner Sicht auch zu oft aus dem Werkzeugkasten der Meinungsmache bedient. Trotzdem würde ich eine, von ihnen unter den genannten Bedingungen erarbeitete und veröffentlichte Petition äußerst kritisch betrachten. Dabei gehe ich natürlich davon aus, dass die in den Petitionen vorgeschlagenen Lösungen in entsprechende Detailtiefe gehen. Eine oberflächliche Petition auf der Ebene von „Die Pariser Klimaziele sind unter allen Umständen einzuhalten“ könnte man bedenkenlos unterzeichnen. Für eine solche allgemeine Formulierung sind aber weder Experten notwendig noch glaube ich, dass damit irgendeine politische Änderung erzielt werden könnte.
In den Gründen für bzw. dem Umgang mit der nahenden Klimakatastrophe erkenne ich Verhaltensmuster, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten in verschiedener Ausprägung ständig wiederholen. Diese Muster, die zu der unzureichenden Lösung der Problematik führen, leiten sich ab aus einer Kombination verschiedener Urteilsfehler, die von der Psychologie, Soziologie und Verhaltensökonomie erkannt und erforscht werden. Hier ins Detail zu gehen, ist ein umfangreiches Projekt, das ich plane — darum kann ich hier nur oberflächlich darauf eingehen.
Auf dieser höheren Ebene kann man etwa die in der Start-Up Szene verbreitete „Fake it till you make it“ Einstellung identifizieren. Das bedeutet, eine Fähigkeit so lange vorzutäuschen, bis man sie wirklich erlernt hat, oder eine Technik so lange vorzutäuschen, bis man sie wirklich entwickelt hat. Wir finden das z. B. bei dem Begriff der künstlichen Intelligenz, wo es bereits vorkam, dass etwas, das als KI verkauft wurde, tatsächlich von einer ganzen Menge von Niedriglohnarbeitern am Bildschirm erledigt wurde.
Ich vermute, dass dieses eingebrannte Verhaltensmuster, oder etwas ähnliches, ein Grund dafür ist, dass einige Menschen der Klimakatastrophe mit blindem Vertrauen in die Technik begegnen. Sie hoffen auf eine Technologie, die noch erfunden werden muss, welche entweder CO2 freie Energie liefert (z. B. Kernfusion) oder das CO2 aus der Luft binden kann oder am besten beide Technologien. Die derzeitige Regierung aus Union und SPD tut nur scheinbar etwas bzw. keinesfalls genug, in dem blinden Vertrauen, der Menschheit würde schon noch etwas Besseres einfallen — „Fake it till you make it“ eben.
Das gleiche Muster sehe ich auch in der Organisationslogik der 12062020 Veranstaltung. Die Weltrettung wird propagiert, obwohl man eigentlich genau weiß, dass es so nicht funktionieren kann. Es besteht aber die Hoffnung, den Hype um die “Marke” 12062020 so lange aufrecht zu erhalten, bis die Bewegung genug Schwungmasse hat, um wirklich die Politik verändern zu können. Dies ist ein Pokerspiel, in dem ein Teil des Vertrauens in die Demokratie als Einsatz auf dem Tisch liegt — ein Einsatz, der aus meiner Sicht zu hoch ist.
Denn was passiert denn, wenn die Teilnehmer feststellen, dass nach dieser riesigen Aktion die Welt nicht plötzlich gerettet ist? Welchen Effekt hat die Erkenntnis, dass hauptsächlich die Olympiastadion Berlin GmbH, die Deutsche Entertainment AG und unzählige mittlere und kleine Unternehmen an dieser Veranstaltung verdient haben? „Kein Gefühl der Machtlosigkeit mehr.“ verspricht ein weiteres Video der Organisatoren und ich bin mir sicher, in der Hypestimmung der Veranstaltung fühlen sich auch viele Menschen ermächtigt — „empowert“ sagt man in der Bullshit Lingo — mittelfristig ist es aber eher wahrscheinlich, dass auf diese Hochstimmung ein sehr starkes Gefühl der Machtlosigkeit folgt. Wenn eben nicht die Gesetze verabschiedet werden, die man sich erhofft, wenn die Teilnehmer für ihr Engagement gelobt, aber mit hohlen Phrasen von den Politikern abgespeist werden, so wie jetzt schon die Fridays for Future, dann wird das Gefühl der Machtlosigkeit um so stärker sein. Wenn Hoffnung in einem so zentralen Event hochkonzentriert wird, dann ist die darauffolgende Ernüchterung umso einschneidender, und diese Ernüchterung ist vorprogrammiert, weil eben Demokratie mühsam ist, sie ist richtig harte Arbeit und keine Party. Sie ist so anstrengend, wie diesen langen Text zu lesen und zu verstehen, anstatt sich ein fancy Werbevideo von 12062020 anzusehen — nein, sogar noch viel anstrengender. Was also wahrscheinlich folgt, ist Demokratieverdruss, Hoffnungslosigkeit, Zynismus und Wut.
Denn wer glaubt denn wirklich, unsere Regierung wüsste nicht, was sie eigentlich tun müsste? Wer glaubt denn, Petitionen könnten das, was eine große Zahl an Studien bisher nicht konnte, nämlich den Widerspruch zwischen Wissenschaft und Ideologie aufzulösen. Was die Fridays for Future Demos und die erweiterten Global Climate Strikes nicht schaffen, wo hunderttausende auf die Straße gehen, um zu zeigen, dass es den Menschen ernst ist, mit ihrem Anliegen, das soll nun eine einzige Veranstaltung mit nicht mal 90.000 Menschen ändern? Siefer sagt selbst, er will, dass dieses Modell skaliert. Das würde bedeuten, irgendwann ganz viele Veranstaltungen ähnlicher Art an ganz vielen Orten, ganz oft. Das geht schon organisatorisch nicht. Zu viel Vorarbeit wäre nötig, jedes Mal wieder 29,95 € zahlen — dieser ganze Aufwand müsste wegrationalisiert werden. Und wo wären wir dann? Ja, genau: Bei den Demos, wie wir sie heute schon haben, die im öffentlichen Raum stattfinden, wenig kosten, schnell organisiert sind und teilweise heute schon Party-Elemente beinhalten. 12062020 als Kristallisationspunkt der Umwelt- und der sozialen Bewegung ist ein Hirngespinst, das mit genau der Ideologie verwandt ist, die uns viele der Probleme erst eingebracht hat, nämlich, dass es die Unternehmer sind, die am besten wissen, wie man Gesellschaft organisiert, weil sie schon bewiesen haben, dass sie Unternehmen organisieren können. Es ist diese absurde Idee der Meritokratie, wie sie von einigen neoliberalen Vordenkern propagiert wird, die sich hier in anderer Form wiederspiegelt, und dabei zeigt sich doch nur wiedereinmal die grandiose Selbstüberschätzung dieser „Masters of mankind“ (Adam Smith).
Es gab bereits von verschiedenen Seiten einiges an Kritik zu dieser Veranstaltung, unter anderem Punkte, die ich hier auch aufgegriffen habe. Teilweise gibt es dazu auch schon Stellungnahmen der Verantwortlichen. Problematisch ist, dass bis auf eine FAQ, die an verschiedenen Stellen in gleicher Form auftaucht, die Informationen, welche teilweise auch die Message aus dem Werbevideo relativieren, über verschiedene Stellen verteilt sind: Twitter, Instagram, Facebook, Interviews, Startnext-Blog. Diese Fragmentierung der Information macht es vielen Menschen, die sich nicht sehr intensiv mit dem Thema auseinandersetzen können, schwer, sich ein ausgewogenes Bild zu machen. Somit bleiben das irreführende Marketing Video (knapp 45.000 Aufrufe) und die Startnext Seite wahrscheinlich die zentralen Informationsquellen.
Ich möchte noch kurz auf zwei Punkte aus der FAQ eingehen, die aus meiner Sicht weitere prägnante Beispiele für die schlechte Kommunikation und die mangelnde Transparenz darstellen: Finanzierung und der Vorwurf der Werbung.
In der FAQ wird die Frage nach der Aufschlüsselung der Kosten durch ein Tortendiagramm beantwortet. Bei einigen der Abschnitte ist relativ klar, was sich dahinter verbirgt, z. B. Security, Bühne & Technik, Infrastruktur & Venue. Aber auch hier stellen sich Fragen: Bühne und Technik ist zusammen etwas größer als die Mehrwertsteuer, d.h. bei 1,8 Mio. Ticketeinnahmen, 360.000 € für Bühne und Technik, bei 2,7 Mio. Einnahmen wären es 540.000 für Bühne und Technik. Nun sind 360.000 € schon ein stolzer Preis für diesen Posten, aber mit dem geplanten Livestreaming und einigen Videowänden vielleicht realistisch. Wie aber durch die höhere Besucherzahl Mehrkosten an dieser Stelle entstehen sollen, von 180.000 € ist mir unklar. Gleiches gilt für die GEMA, die normalerweise nach der Anzahl der möglichen Besucher berechnet, nicht nach der tatsächlichen Besucherzahl. Auch bei den meisten anderen Abschnitten ist für mich unklar, wie sich Mehrkosten anhand der Besucherzahl ergeben.
Noch unklarer ist allerdings, was sich hinter Organisation, Personal und technische Vorbereitung verbirgt. Organisation beinhaltet schon mal nicht das 12062020 Team, denn dafür gibt es nochmal einen Abschnitt außerhalb des Diagramms, was suggeriert, dass dieses Team komplett ehrenamtlich arbeitet. In den Texten steht allerdings „ehrenamtliche und freiwillige Helfer“. Ehrenamtliche Helfer sind immer auch freiwillig, aber nicht umgekehrt, warum also die explizit getrennte Erwähnung?
Man kann also nur spekulieren, was sich hinter diesen Posten verbirgt. Hat z. B. „technische Vorbereitung“ etwas mit der Community-Funktion zu tun, welche die Erarbeitung der Themen für die Petitionen ermöglichen soll? Nach dem Jung & Naiv Interview scheint klar zu sein: Das Organisationsteam weiß das selbst noch nicht genau. Siefer macht an keinem Punkt klare Aussagen darüber, wie genau es weiter geht. Es würde ins Bild passen, wenn die Finanzierung ebenso undurchdacht wäre, wie der Rest des Konzeptes, das wird alles „agil“ erarbeitet. Wie will man auch ein finanzielles Konzept haben, wenn der Rest noch vollkommen unklar ist. Da hilft es auch nicht, dass ein Notar hinterher alles kontrolliert, und sicherstellt, dass der Gewinn einem guten Zweck zugeführt wird.
Der nächste Vorwurf, dem sich die Veranstaltung regelmäßig stellen muss, ist: Es handle sich hier zum großen Teil auch um eine Werbeveranstaltung für die Firma der Organisatoren. Dies wird ausführlich verneint, mit einem Text, in dem bei 8 Zeilen 4 Mal der Name der Firma vorkommt.
Jetzt gibt es einen psychologischen Effekt, der im Marketing sehr oft verwendet wird: Die Verfügbarkeitsheuristik bzw. der Mere-Exposure-Effekt. Dieser sorgt dafür, dass ein Reiz, den wir öfter erhalten, von uns meist positiver bewertet wird, außer wir haben von vornherein starke negative Vorbehalte. Das gilt auch für den Namen einer Firma oder eines Produktes. Eine Firma, die von sich selbst behauptet richtig gut im Marketing zu sein, sollte diesen Effekt kennen. So oft, wie der Firmenname nun in der Kommunikation auftaucht, hat dies auf jeden Fall einen Werbeeffekt. Dabei stört es auch nicht, dass die Diskussion um dieses Event kritisch ist, denn ein anderer Werbegrundsatz sagt: All news is good news. (Alle Nachrichten sind gute Nachrichten). Das bedeutet, dass der Mere-Exposure-Effekt eben auch unabhängig von positivem oder negativem Kontext funktioniert — nicht immer, aber meistens (bspw. bei Benetton).
Nicht zu vernachlässigen ist übrigens auch der Effekt im Rahmen von SEO (Search Engine Optimization), der dem Mere-Exposure-Effekt im Rahmen der Suchmaschinenlogik ähnelt. Ein Begriff, der besonders oft vorkommt, auf Seiten, die ein hohes Ranking haben, steigt auch selbst im Ranking. Wenn nun also viele Artikel erscheinen, die den Firmennamen erwähnen oder der Hashtag oft vorkommt etc. hat das einen positiven Effekt auf die Auffindbarkeit in Suchmaschinen. Wie sehr sich hier der Kontext auswirkt, weiß man nicht genau, da die Algorithmen der Suchmaschinen nicht öffentlich sind, aber schaden wird es dem Ranking wahrscheinlich nicht.
In meinem Bekanntenkreis haben übrigens bisher die wenigsten von 12062020 oder der Firma von Siefer gehört — durch mich wissen sie jetzt von beidem.
Über den Sprachstil der ganzen Kampagne sowie das lange Interview von Tilo Jung mit Philip Siefer könnte man nochmal eine sehr lange Analyse machen. In einem offenen Brief an die Presse kann man eine Relativierung lesen:
Aber wie das so ist, wenn man seinem Gegenüber imponieren will — wir trugen extra dick auf.
Dieser Satz bezieht sich aber offensichtlich auf den Pressetermin. Inwiefern sich die Aussagen gegenüber der Presse mit denen im Video decken und ob die Entschuldigung auch für die überzogenen Aussagen im Video gilt, bleibt offen.
Im Interview fällt mir auf, dass Siefer, immer wenn es konkret wird, keine Informationen liefert. Er labert rum, stellt Gegenfragen und verwendet auch Kunstgriffe aus der eristischen Dialektik (Recht bekommen ohne Recht zu haben), z. B. die Frage unzulässig erweitern und diese Erweiterung ins Lächerliche ziehen. Wahrscheinlich tut er dies nicht kalkuliert, sondern ganz unbewusst.
Die ganze Veranstaltung und die Kampagne dazu passen (leider) wunderbar zum Zeitgeist. Der aus meiner Sicht beste Begriff für die eine hier repräsentierte Facette des Zeitgeistes ist “postfaktisch”, was nicht für Fake News steht, wie viele fälschlicherweise glauben, sondern für die gezielte Ersetzung von Fakten durch Gefühle mit den Mitteln der Kommunikation.
Die zweite Facette ist “agile” [aˈɡiːlə]: Agiles Vorgehen ist in der Start-Up Szene, besonders im Bereich Softwareentwicklung, der letzte Schrei — und Agile hat seine Vorteile. Ich selbst habe schon nach so etwas ähnlichem wie Agile gearbeitet, noch bevor ich überhaupt wusste was es ist. Trotzdem ist es a) kein Allheilmittel und wird b) oft falsch verstanden und falsch eingesetzt.
Kurz zusammengefasst sieht Agile vor, dass nicht in einem großen Plan erst das Endergebnis festgelegt wird und man dann loslegt und sich strikt an den Plan hält. Stattdessen legt man eine grobe Zielrichtung fest und überprüft dann in festen Abständen immer wieder, ob die Lösung noch zum Problem passt, oder z. B. die Rahmenbedingungen sich geändert haben. Die Zwischenziele sind immer ein sogenanntes „Minimum Viable Product“ (MVP), das ist eine in sich funktionierende Lösung, die einen Mehrwert bietet, aber natürlich noch nicht den vollen Funktionsumfang der Ziellösung.
In diesem Fall ähnelt das Vorgehen aber eher einem blinden Losrennen, als einer sinnvoll angewandten agilen Methodik.
* Edward Bernays verwendete das Wort „Propaganda“ für das, was heute eher Public Relations (PR), Werbung oder Marketing heißt. Bernays gilt als Begründer der PR und war der erste, der bewusst mit den Methoden der Psychologie versuchte, Menschen zu beeinflussen und dabei deren kritischen Geist zu unterlaufen. Ich empfehle eine Doku von ARTE „Edward Bernays und die Wissenschaft der Meinungsmache“, die nicht mehr in der Mediathek ist, die man vielleicht aber noch irgendwo im Netz findet, bzw. wieder Martin Haase auf dem 25C3