Wie erkennt man Hochbegabte?

Per Definition entspricht der Anteil der Hochbegabten 2% der Gesamtbevölkerung, denn hochbegabt ist, wer intelligenter ist als 98% der Bevölkerung. Eine andere, vermeintlich besser messbare Definition, spricht von einem Intelligenzquotienten (IQ) von mindestens 130. Dieser Wert wird von speziell geschulten Psychologen mit einem Intelligenztest ermittelt. Leider ist diese Messung nicht besonders aussagekräftig, denn Intelligenz ist nicht messbar, wie eine physikalische Größe. "Ein IQ-Test misst, wie gut jemand die Art von Fragen beantworten kann, die in einem IQ-Test vorkommen." ist eine leicht sarkastische Beschreibung dieser Tests - man kann die Definition auch umdrehen und nach Edwin Boring sagen "Intelligenz ist, was ein IQ-Test misst". Boring selbst kritisierte diese Definition aber und wünschte sich anstatt Intelligenz einen "eher technischen Begriff", da das allgemeine Verständnis von Intelligenz von dieser Definition abweicht. Nassim Taleb hat 2019 einen Blog-Artikel verfasst, in dem er das Konzept des IQ fast komplett zum Schwindel erklärt - seinen Ausführungen stimme ich fast vollumfänglich zu.
Sie werden natürlich einige Akademiker finden, die dieser Darstellung vehement widersprechen. Steven Pinker bezeichnet diese Argumentation z. B. sinngemäß als linksintellektuellen Mythos, der seit Dekaden widerlegt ist, den Nachweis für die Richtigkeit seiner Aussage bleibt er aber schuldig. Wie immer sollten sie es also mit Karl Raimund Popper halten, und weder mir noch jemand anderem einfach so glauben.

Es gibt die verschiedensten Arten von Intelligenz (z.B. sprachlich, logisch, kreativ, sozial, emotional) und wie jede einzelne Art genau "funktioniert", versteht die Wissenschaft nicht komplett. Für diese verschiedenen Bereiche der Intelligenz gibt es inzwischen auch separate Tests, was aber immer noch nicht bedeutet, dass diese Intelligenz-Sparten "messbar" sind.

Meine Definition von Intelligenz ist: Die Fähigkeit aus einem Minimum an Informationen ein Maximum an richtigen Aussagen abzuleiten und diese Folgerungen praktisch anzuwenden. Je mehr richtige Aussagen jemand also aus je weniger Informationen ableiten kann, je schneller er oder sie dabei ist und je besser diese Aussagen zu praktischen Ergebnissen führen, desto intelligenter ist die Person. Das Wort "Aussage" bezieht sich hierbei abstrakt auf das Resultat eines gedanklichen Prozesses, der bewußt oder unbewußt ablaufen kann. Die Improvisation eines Musikers ist also beispielsweise ebenso als "Aussage" zu verstehen, wie ein ausformulierter Satz.
Alle Folgerungen entsprechen dabei natürlich wieder neuen Informationen, aus denen sich weitere Folgerungen ableiten lassen. Das Netzwerk der Informationen und Folgerungen wächst vom Ausgangspunkt also ggf. nicht linear sondern schneller. Unter Umständen ergeben sich auch Rückkopplungen und Querverbindungen, welche bereits getroffene Folgerungen bestätigen oder invalidieren. Dieses Netzwerk zu überblicken und mental zu verwalten ist also ebenfalls ein Merkmal der Intelligenz.

Wie erkennt man jetzt aber, ob ein Mensch mehr oder weniger intelligent bzw. sogar hochbegabt ist? Diese Fähigkeit zu besitzen hätte ja gegebenenfalls Vorteile für den Umgang mit den Mitmenschen und auch die Aufgaben der Personalführung und der Mitarbeiterakquise.

Intelligentere Menschen sind eher in der Lage zu erkennen, was sie nicht wissen. Leider äußert sich diese Eigenschaft in gegensätzlichen Verhaltensweisen. Was man wahrscheinlich erwarten würde, ist, dass die Person direkt weitere Fragen stellt, nachdem sie neue Informationen erhalten hat. Es kann aber stattdessen auch passieren, dass sie vorerst schweigt, falls das Netzwerk aus Folgerunen zu komplex wird, um direkt weitere, konkrete Schritte abzuleiten. Man kann also nicht direkt aus der reinen Anzahl der klärenden oder weiterführenden Fragen Schlussfolgerungen auf die Begabung ziehen.

Zu Fehlinterpretationen kommt es auch häufig, wenn eine intelligentere Person Sätze sagt wie "Das ist kein Problem" oder "Das ist einfach". Diese Person wird von anderen dann oft für naiv oder dumm gehalten, obwohl genau das Gegenteil der Fall ist. Der Sachverhalt liegt dann für den Begabten klar auf der Hand, während die anderen überfordert sind. Auch hier gibt es die Umkehrfunktion: Sagt der Begabte zu einem Thema "Das ist kompliziert", erkennt er oder sie vielleicht offene Fragen, Querverbindungen oder Rückkopplungen, die weniger begabten verborgen bleiben, wird aber von diesen unter Umständen als "dümmer" angesehen.

Auf so einfache Faustformeln kann man sich also nicht verlassen. Es kommt wahrscheinlich auch nicht gut an, Freunde und Bekannte zu IQ-Tests zu zwingen, oder sogar direkt nach dem IQ zu fragen, der trotz aller Kritik wenigstens einen Anhaltspunkt geben kann.

Die beste Methode ist, eine Person anhand konkreter Ergebnisse zu beurteilen. Jeder würde wahrscheinlich eine Künstlerin, die verschiedene Techniken und Stile ohne lange Einarbeitungszeit anwenden kann, als "begnadet" bezeichnen, jemanden der technische Probleme oder Herausforderungen schnell und eigenständig löst als begabt. Menschen, die viel mit Hochbegabten zu tun haben, am besten noch aus verschiedenen Begabungsbereichen, tun sich mit der Zeit wahrscheinlich ebenfalls leicher Begabung zu beurteilen - sie bekommen eine gewisse Expertenintuiton. Wahrscheinlich am besten können andere Hochbegabte die Begabung einer Person einschätzen - nicht immer aber ist ein Hochbegabter "griffbereit".
Es gilt aber zu beachten, dass es auch sogenannte "Underachiever" gibt. Hier handelt es sich um Menschen, die trotz ihrer inneren Stärken aus den verschiedensten Gründen hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, und darunter oft gewaltig leiden. Gerade diese Menschen gilt es zu erkennen und Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen sie ihre Stärken zur Geltung bringen können, um ein zufriedeneres Leben zu führen und für die Gesellschaft eine Bereicherung darzustellen.

Neben der Beachtung der auf dieser Seite vorgestellten Eigenschaften kann es auch vorteilhaft sein über bestimmte Reaktionen offen zu reden. Fragen wie "Warum zögerst du mit der Antwort? Siehst du etwas, das ich nicht sehe?" können hilfreich sein. Ebensowichtig ist es, anderen Menschen genau zuzuhören, um zu erkennen wie er oder sie tickt und z. B. Komplexität eher meidet oder anziehend findet. Dazu ist es wichtig mit dem Thema Hochbegabung offen umzugehen und Neid und Vorurteile abzubauen, wozu ich mit diesen Informationen hoffentlich einen Beitrag leisten kann.

Unter dem Strich gilt es natürlich noch zu sagen, dass die vorgeschlagenen Vorgehensweisen nicht nür für den Umgang mit Hochbegabten eine gute Voraussetzung darstellen. Jeder Mensch ist am glücklichsten, wenn er das tun kann, was ihm am meisten liegt - oft auch am effektivsten. Offene, vorurteilsarme Kommunikation und "den Anderern anzunehmen" sollte eigentlich auch den Standard darstellen.

Edwin Boring - Intelligence as the Tests Test It

Wikipedia: Kritik am Intelligenzbegriff

BR - Der IQ Test (u. A. "Intelligenz ist objektiv nicht messbar")

Rubikon: Der Intelligenz-Mythos

Nassim Taleb - IQ is largely a pseudoscientific swindle

Stephen Murdoch - IQ - The History Of A Failed Idea (Amazon)
als Hörbuch IQ: How Psychology Hijacked Intelligence (Amazon)