Aufklärung Ad Absurdum
06.07.2020
Buchkritik zu “ Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung” von Steven Pinker
Ursprünglich veröffentlicht am 13.01.2020
Photo by Faris Mohammed on Unsplash
Dieses Buch ist die Antithese zu seiner eigenen Existenz. Falls alles, was dieses Buch behauptet, wahr wäre, nämlich dass die Welt seit der Aufklärung immer besser wurde und weiterhin wird, müsste man uns nicht davor warnen, in Verzweiflung zu verfallen. Tatsächlich könnte das Buch selbst sogar eine Störung im System auslösen, denn es wirbt für eine Veränderung von etwas, von dem der Autor behauptet, es liefe schon lange und würde sich dabei ständig selbst verbessern. Ändere nie ein funktionierendes System — vor allem nicht ein chaotisches System der zweiten Ordnung, wie die menschliche Gesellschaft. Das könnte unvorhersehbare Konsequenzen haben.
Diese Art von Widerspruch ist symptomatisch für das ganze Buch und darum ist es auch voll von Relativismen. Die Kernaussage „Bitte seht ein, dass alles besser wurde und immer noch wird. Also freut euch doch!“ repräsentiert einen Historizismus des Fortschritts, den der Autor konsequenterweise selbst leugnen muss und das auch tut, indem er sagt: Der Trend der Vergangenheit erlaubt keine Voraussage zukünftiger Entwicklungen. Das klingt wie etwas aus den Verkaufsprospekten von Aktienfonds, nur dass Pinker auslässt: Sie könnten auch alles verlieren.
Im Gegenteil: Er warnt, dass zu große Vorsicht desaströse Konsequenzen haben könnte, und erklärt, dass die Wahrscheinlichkeit der Vernichtung der Menschheit praktisch nicht gegeben ist.
Diese Art von Spin-Doctoring durchzieht das komplette Buch und lässt den kritischen Leser mit einer Menge an Fragen zurück, hauptsächlich: Worauf will der Autor eigentlich hinaus?
Man muss schon sehr viel zwischen den Zeilen dieses Meisterwerks der Polemik lesen, um herauszufinden, welches Ziel Pinker verfolgt. Trotzdem: Man ist sich nie sicher, denn es könnte auch der eigene Bestätigungsfehler sein, der da spricht. Aber wenn man die ersten paar absurden Aussagen entdeckt hat, beginnt man sich zu fragen, ob diese Arbeit nicht insgesamt ein Produkt der Illusion der eigenen Rechtschaffenheit und des Wissens des Autors ist, eine der kognitiven Verzerrungen, die er selbst anderen zuschreibt, wenn er erklärt, warum er im Recht ist, und jeder, der anderer Meinung ist, im Irrtum … und ein Dummkopf … und ein Misanthrop.
Schlauer als alle Experten
Eine der für diesen Kritiker auffälligsten Unwahrheiten ist Pinkers Beschreibung des Jahr-2000-Problems (Y2K-Problem). So gut wie alles, was er hierüber schreibt, ist falsch. Ich werde hier nicht in die technischen Details eintauchen, Sie müssen mir schon glauben — genauso wie Sie Pinker glauben müssen, der Sie von seiner Qualifikation überzeugt, indem er behauptet, schon mal in Assembler programmiert zu haben. Das wäre so, als würde ich behaupten, eine Professur für kognitive Psychologie bekleiden zu können, weil ich schon mal ein Buch darüber gelesen habe. Der Autor versteht das Problem einfach nicht gut genug, um sich hier als Autorität aufspielen zu können. Es ist ein deutliches Zeichen seiner Hybris, wenn er denkt, er sei in diesem Punkt schlauer als alle Informatikspezialisten der Welt. Es ging damals eben nicht nur darum, das richtige Datum anzuzeigen. Sehr komplexe Prozesse mit direkten Auswirkungen auf das echte Leben hängen auch von der Berechnung des richtigen Datums und korrekten Datumsdifferenzen ab. Die hundert Billionen Dollar, von denen er andeutet, sie wären aus schierer Panik verschleudert worden, wurden in Wirklichkeit größtenteils gerechtfertigt ausgegeben. Das Y2K-Problem hätte verheerende Folgen haben können, zum Beispiel noch lebende Menschen als Tote registrieren oder, noch wahrscheinlicher, als noch gar nicht geboren, nicht ausgezahlte Löhne oder Techniker, die aus dem Kontrollraum eines Atomkraftwerkes ausgesperrt werden — denken Sie sich irgendwas aus. Solche Probleme aufgrund von Programmfehlern sind unter anderen Umständen tatsächlich aufgetreten, nur dass mit dem Y2K-Problem die Größenordnung deutlich höher ausgefallen wäre.[22] Die Welt wäre deswegen wahrscheinlich nicht untergegangen, so weit hat Pinker recht, aber es hätte massive Probleme geben können, bis hin zu menschlichem Leid und sogar Tod.
Aufmerksam wurde ich auf das neue Buch von Steven Pinker durch ein Video auf YouTube, das seinen Vortrag auf dem Welt-Wirtschafts-Forum in Davos zeigt. Das Video heißt: Be Positive, The World Is Not Falling Apart. (Seid zuversichtlich, die Welt fällt nicht auseinander)
Die Kernaussage des Vortrags und seines Buches sind mit dem Titel eigentlich schon sehr gut zusammengefasst. Um zu erklären, warum das so ist, führt er Statistiken an, wie sich die Situation in verschiedensten Bereichen unserer Gesellschaft seit den Tagen der Aufklärung zum Positiven verändert hat. Er macht das an vielen Themen fest, bei denen kaum jemand anzweifeln kann, dass die Entwicklungen auch objektiv als gut zu werten sind, zum Beispiel weniger Armut, weniger Gewalt, bessere Gesundheit, höhere Zufriedenheit. Ich persönlich finde es gut und notwendig, die Entwicklungen hin zu einer „besseren Welt“ öffentlich auch klar anzusprechen, da unsere Nachrichten eher von Negativmeldungen dominiert werden — auch das zeigt Pinker anhand von Analysen. Ob aus den präsentierten Fakten allerdings die Schlussfolgerung zu ziehen ist, dass wir der Zukunft gegenüber durchwegs positiv eingestellt sein sollten, ist damit noch lange nicht bewiesen.
Aufklärung und Verzerrung
Im ersten Kapitel hält Pinker eine flammende Verteidigungsrede für die Errungenschaften der Aufklärung, wobei er zugibt, dass es eigentlich keine feste Definition dieser Errungenschaften gibt, da die Denker der Aufklärung untereinander schon zu unterschiedlich sind und die Periode keinen genauen Beginn und kein exakt definiertes Ende hat. Auch gibt er zu bedenken, dass es auch unter den Aufklärern Rassisten, Sexisten und Antisemiten gab und man die Ergebnisse dieser Periode unabhängig von den beteiligten Personen sehen sollte. Der Wert der Aufklärung ergibt sich somit erst aus dem, was die Anhänger dieser Denker später aus der diffusen Menge der Ideen praktisch umgesetzt haben. Als Werte der Aufklärung benennt er Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt (reason, science, humanism and progress). Man wünscht sich, mancher unserer Politiker, die von „westlichen Werten“ oder „Leitkultur“ schwafeln und dabei eigentlich eben auch die Ergebnisse der Aufklärung meinen, könnte dies genauso präzise und leidenschaftlich vortragen wie Steven Pinker.
Pinker ist Kognitionspsychologe und somit gut vertraut mit den Mechanismen, wie Menschen Informationen aufnehmen, speichern und bewerten. Durch seine Arbeit in der Forschung sollte er auch in der wissenschaftlichen Vorgehensweise geübt sein. Die Voraussetzungen für eine objektive Betrachtungsweise sind also gegeben. Leider ist davon in seinem Vortrags- und Schreibstil wenig zu bemerken. Um seinen Standpunkt zu vertreten, verfällt er viel zu oft in Polemik und Vorurteile und hinterfragt die von ihm gezogenen Schlüsse nicht konsequent oder handelt Widersprüche dogmatisch mit einem Satz ab. Er fällt ständig auf die gleichen kognitiven Verzerrungen herein, die er auch selbst anführt, um seine Argumentation zu untermauern — ironischerweise unter den vielen kognitiven Verzerrungen hauptsächlich jene, die er in seinem Vortrag und im Buch ausdrücklich erwähnt [8]:
1. Generalisierung aus Anekdoten
2. Argumentation auf Basis von Stereotypen
3. Überbewertung von Indizien, die das, was wir glauben, bestätigen und Ignorieren von Indizien, die dem widersprechen (der sogenannte Bestätigungsfehler)
4. Übermäßiges Vertrauen in unser Wissen, unsere Weisheit und Rechtschaffenheit
Pinker ist gut darin vermeintliche Urteilsfehler bei anderen zu identifizieren — bei sich selbst scheitert er damit kläglich.
Einer seiner Auflockerungssprüche ist: Die selbst ernannten fortschrittlichen Denker sind die, welche den Fortschritt am meisten hassen („Intellectuals who call themselves progressives, really hate progress.“ [9]). Als Beweis für diese These führt er Zitate aus Reaktionen auf seine Ausführungen an, die scheinbar von progressiven Lesern stammen.
Er verallgemeinert damit also aus seiner eigenen anekdotischen Erfahrung und schlussfolgert, dass alle Progressiven so denken. Den hierdurch entstehenden Stereotyp führt er nun als Beweis an, dass alle Progressiven den Fortschritt hassen. Auch den Begriff „Fortschritt“ verwendet er durchgehend als Stereotyp. So ist für ihn jede technische Neuerung automatisch Fortschritt, zum Beispiel Fracking.
Der Verstoß gegen die von ihm selbst propagierte Methodik ist hierbei so eklatant und dabei in keiner Weise erkennbar ironisch, dass es mir schwerfällt, diese Aussage nur als lockeren Spruch abzutun. Außerdem ist diese Art von Polemik symptomatisch für das ganze Buch und steht exemplarisch für die Überschätzung der eigenen Rechtschaffenheit. Damit wären wir schon bei mindestens drei der vier genannten kognitiven Verzerrungen.
Wenn er von den Argumenten berichtet, die ihm normalerweise entgegengehalten werden, so beschränkt er sich auf solche, die leicht zu entkräften sind. Auf diese Weise versucht er den Eindruck zu verstärken, alle, die nicht seiner Meinung sind, seien Dummköpfe. Es mag auch durchaus sein, dass diese Art von Einsprüchen die große Masse ausmachen, allerdings äußern auch einige hochqualifizierte Menschen, unter anderem Spezialisten der Fachbereiche in denen Pinker nur wildert, substantielle Kritik an seinen Ausführungen. Pinker wurde beispielsweise in der Vergangenheit von Noam Chomsky scharf kritisiert oder auch von dem Anthropologen Brian Ferguson [14], um nur zwei zu nennen, deren Kritik weit über das hinausgeht, was Pinker in seinen Beispielen erwähnt. Nassim Taleb ordnet ihn in die Kategorie der „Intellectuals yet idiots“ (IYI, zu Deutsch: Intelektuelle aber trotzdem Idioten) ein [12][15]. Erliegt Pinker also hier dem Bestätigungsfehler oder bedient er sich einfach nur eristischer Dialektik? Das hängt wohl von seiner Rechtschaffenheit ab.
Messbarkeitswahn
Ob denn Fortschritt überhaupt messbar sei, beantwortet er mit: Klar, das sei überhaupt das Einfachste. Er zählt eine Liste an Faktoren auf, bei denen nach seiner Aussage jeder zustimmen würde, sie seien ein Anzeichen von Fortschritt. Leider sind von den 13 Faktoren ungefähr die Hälfte nicht zuverlässig messbar oder man könnte diskutieren, ob und wie sie zum Fortschritt beitragen [1].
Sicherheit und Freiheit sind beispielsweise zwei der genannten Faktoren. Intellektuelle streiten sich bis heute über eine Definition dieser Begriffe. Beide sind in sich bereits multidimensional. Zur Sicherheit gehört zum Beispiel körperliche Unversehrtheit, Recht auf Privatsphäre, finanzielle bzw. materielle Sicherheit, Vertrauen in andere, Rechtssicherheit, soziale Zugehörigkeit und politische Stabilität. Unter Freiheit verstehen wir unter anderem die Möglichkeit zur Persönlichkeitsentfaltung, freie Meinungsäußerung, Freizügigkeit, Wahlfreiheit im Konsum, freie politische Wahlen usw. In bestimmten Bereichen ist es sogar so, dass ein Mehr an Sicherheit ein Weniger an Freiheit bedeutet und umgekehrt. Diesen Diskurs hier aufzuarbeiten würde den Rahmen bei Weitem sprengen. Klar ist aber: Von einer Messbarkeit, ähnlich einer physikalischen Größe, zu sprechen ist blanker Hohn.
Auch Intelligenz, ein weiterer Punkt auf Pinkers Liste, ist nicht zuverlässig messbar [10][11][12]. Auf die Frage, was IQ-Tests eigentlich messen, bekommt man von manchen Experten die Antwort: IQ-Tests messen, wie gut jemand die Art von Fragen beantworten kann, die in IQ-Tests vorkommen. Heute ist sich die Forschung einig, dass es verschiedene Facetten der Intelligenz gibt, zum Beispiel sprachlich, logisch, mathematisch, sozial, musikalisch, bildlich-räumlich usw. Wie die Entwicklung der Intelligenz über die Zeit bei ständig fortschreitender Umstrukturierung des Intelligenzbegriffs messbar sein soll, wird nicht dargelegt, er nimmt aber Bezug auf den g-Wert. Pinker verfällt auch hier dem Punkt 4 aus seiner eigenen Liste an kognitiven Verzerrungen, der Überschätzung des Wissens.
Als Viertes und Letztes gehe ich noch auf den Begriff des Glücks ein. Auch Glück ist, wie schon die anderen erwähnten Begriffe, ein wissenschaftlich nicht fest definierter Begriff. Welche Faktoren zum Glück gehören und wann ein Mensch glücklich ist, ist stark umstritten. Darum wird bei der Messung von Glück in vielen Fällen auf eine Frage der Art „Auf einer Skala von 1 bis 10, wie glücklich sind Sie?“ zurückgegriffen. Diese subjektive Selbsteinschätzung ist aber vielen verschiedenen Verzerrungen unterworfen, zum Beispiel Ehrlichkeit, Umgebung, fragende Person, Wetter. In einer Studie von Kahneman und Krueger im Jahre 2006 wurde die Befragung nach zwei Wochen wiederholt und die Antworten zeigten deutliche Unterschiede zur vorherigen Befragung. Die Autoren kommen unter anderem zu dem Schluss, dass eine Messung der Gesamtzufriedenheit der Bevölkerung keinen Sinn macht [2].
An dieser Stelle befinden wir uns mit der Kritik erst am Ende von Kapitel 4, noch bevor die eigentliche Beweisführung im Buch beginnt, und selbst bis hier gäbe es noch einiges mehr zu kritisieren. Trotzdem ist auch jetzt schon klar, wie massiv die methodischen und argumentativen Schwächen des Buches ausfallen. Ich werde darum nicht auf alle Kapitel und Themenfelder eingehen — diese Kritik würde sonst jeglichen Rahmen sprengen. Darum springe ich zu zwei Themenfeldern, die mir besonders wichtig erscheinen: Ungleichheit und Umwelt.
An dieser Stelle muss ich allerdings eingestehen, dass ich nach dem Lesen der ersten Kapitel den Rest des Buches unter dem Einfluss des sogenannten „Horn Effect“ (Hörner Effekt) gelesen habe. Dieser Urteilsfehler ist verwandt mit dem Bestätigungsfehler (Fehler 3) und besagt, dass die Wahrnehmung einer anderen Person durch ein einzelnes negatives Merkmal übermäßig beeinflusst wird. Es fiel mir also spätestens ab Kapitel 4 sehr schwer, Pinkers Motivation und Absicht noch neutral zu behandeln. Ich denke auch, dass diese übermäßige Polemik der ersten Kapitel dem Buch insgesamt nicht guttut, weil er genau die Leser vor den Kopf stößt, die von einigen seiner kontroverseren Thesen ohnehin schwer zu überzeugen sind.
Ungleichheit
In Kapitel 9 widmet sich Pinker der Ungleichheit. Er stellt, wie auch viele Verteidiger der bestehenden Umverteilung von Lohn- zu Kapitalertragsempfängern, fest, dass es gar nicht um Ungleichheit geht. Es ginge nicht darum, dass alle gleich viel haben, sondern dass auch die Ärmsten wenigstens genug haben — also Fairness statt Gleichheit. Diese haarspalterische Polemik dient auch hier scheinbar nur dem Zweck, die Gegner des eigenen Standpunktes schon von vornherein lächerlich zu machen. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Ungleichheitsgegner möchte einen radikalen Kommunismus einführen und alles genau gleich verteilen oder Privateigentum gleich komplett abschaffen. Alle ernst zu nehmenden Kritiker des Vermögensungleichgewichts streben, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, eine faire Verteilung des Vermögens an, meist unter Einbeziehung des Leistungsprinzips.
Die Grundregel, welche Adam Smith und Karl Marx gemein haben, dass der Kapitalist sich unfairerweise an dem durch den Arbeiter geschaffenen Mehrwert bereichern und somit den Arbeiter um seinen Anteil am geschaffenen Mehrwert betrügen kann, kontert Pinker mit einem der absurdesten Beispiele, die man sich nur ausdenken kann: J.K. Rowling.
Wer könne schon behaupten, die Harry-Potter-Autorin würde die Käufer ihrer Bücher und sonstiger Harry-Potter-Produkte betrügen? Jeder würde schließlich die Produkte freiwillig kaufen und erhielte ja auch einen entsprechenden Gegenwert für sein Geld, also zum Beispiel ein Buch oder ein Kinoticket, und wäre dadurch besser dran als vorher. Das gelte natürlich nicht für alle Reichen und er wolle auch nicht sagen, J.K. Rowling hätte ihren Reichtum verdient, es wäre einfach ein Nebenprodukt des ganz normalen Handels. Wenn jemand damit ein Problem hätte, dann wahrscheinlich nur, weil man sich mit anderen vergleicht und nicht die eigene Situation in absoluten Zahlen betrachtet.
Diese unzulässigerweise bis zur Lächerlichkeit verkürzte Darstellung ist eigentlich einem Intellektuellen vom Format eines Steven Pinker absolut unwürdig. Völlig ausgeklammert werden hier industrielle Produktionsbedingungen und die Macht durch den Besitz der Produktionsmittel oder in moderneren Worten: Rentseeking, Outsourcing, Offshoring, Zeitverträge, Shareholder Value, Sweatshops, private Nutzung von Gemeingut etc. pp.
Er ignoriert außerdem die Erkenntnis seines eigenen Fachbereichs, dass das menschliche Gehirn mit Veränderungen wesentlich besser umgehen kann als mit absoluten Werten. Somit hat diese relative Ungleichheit einen ganz natürlichen und direkten Einfluss auf das Empfinden der Menschen. Man kann sich ja wünschen, unser Gehirn würde anders funktionieren — das ändert aber nichts an der Realität.
Hier begeht er natürlich die Fehler 1 und 3 aus seiner eigener Liste.
Pinker zieht folgenden Schluss: Es mag schon sein, dass die Reichsten mehr vom Wirtschaftswachstum profitieren als der Rest. Die bessere finanzielle Situation der Armen auf der Welt wäre auch auf Kosten der unteren Mittelschicht in Amerika erkauft. Als Weltenbürger, der die globale Gesellschaft als Ganzes sieht, müsse man aber eingestehen, dass es das wert sei. Eine Umverteilung von den Stärksten zu den Schwächsten stellt er nicht zur Diskussion. Stattdessen findet er es einen guten Kompromiss, von den fast Armen zu den Armen zu verteilen.
Wenn es Pinker, wie er vorgibt, auch vorrangig darum geht, das Wohlbefinden der Menschen zu steigern, dann darf er nicht ignorieren, dass ab einem bestimmten Betrag ein höheres Gehalt keinen signifikanten positiven Einfluss auf das Glück (happiness) der Menschen hat. Für die USA lag diese Grenze bei einer Studie aus dem Jahr 2010 bei 75.000 US-Dollar (Kahneman/Deaton). Für einen zweiten Wert, Zufriedenheit (life satisfaction) galt dies allerdings nicht. Die Autoren schließen: Ein hohes Einkommen macht sie nicht glücklicher, aber es gibt ihnen ein Leben, von dem sie glauben, es sei besser („High incomes don‘t bring you happiness, but they do bring you a life you think is better“) [3].
Wer sich trotzdem weniger Ungleichheit wünscht, dem sagt Pinker: Am effektivsten wird Ungleichheit durch Epidemien, gewaltsame Revolutionen, Kriege oder Staatskollaps zerstört. Man solle also vorsichtig mit seinen Wünschen umgehen.
Tatsächlich gibt es aber Studien, die gezeigt haben, dass gerade die Wohlhabenden von Kriegen am wenigsten betroffen waren, teilweise sogar nach den Kriegen besser dastanden [4][20]. Beweise für seine gegenteilige Behauptung bleibt er wie so oft schuldig, Vorteile und Nachteile einer durch den Staat gesteuerten Umverteilung bleiben gänzlich unerwähnt. Für Letzteres muss man sich zum Beispiel Joseph E. Stiglitz „The Price of Inequality“ * zuwenden.
Und zum Schluss noch ein klassischer Fall von Pinker‘schem Whataboutism: „Diejenigen, die moderne kapitalistische Gesellschaften wegen ihrer Herzlosigkeit gegenüber den Armen verurteilen, sind sich wahrscheinlich nicht bewusst, wie wenig die vorkapitalistischen Gesellschaften an Hilfe für die Armen ausgegeben haben.“ (“Those who condemn modern capitalist societies for callousness towards the poor are probably unaware of how little the precapitalist societies spent on poor relief.”)
Eines der Ziele des Humanisten sollte sein, für die heute lebenden Menschen und auch für die zukünftigen Generationen das Leid möglichst zu minimieren. Aus diesem Vergleich der heutigen mit der vergangenen Situation lässt sich für einen konsequenten Humanisten also noch nicht der Schluss ziehen, es bestünde kein Handlungsbedarf. Die Frage muss vielmehr sein, ob wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln das Leid noch weiter mindern können und zukünftigen Generationen nicht von vornherein vermeidbares Leid aufbürden.
Umwelt und Resourcen
Bezüglich der verschiedenen Umweltprobleme gibt Steven Pinker wenigstens ziemlich am Anfang des 10. Kapitels zu, dass es sich um „kein kleines Problem“ handelt und dass hier „nicht alle Trends“ nach oben zeigen. Aber auch diese Probleme seien mit dem richtigen Wissen lösbar und er hätte eine weniger radikale oder gar fatalistische Lösung als die allgemein verbreitete.
Dann wirft er sofort der Umweltschutzbewegung vor, sie würde den Fortschritt der Umweltforschung, auf den sie eigentlich aufbaut, ignorieren oder gar Fortschritt an sich ablehnen, schert dabei erst mal Al Gore, den Unabomber und Papst Franziskus über einen Kamm und nennt sie allesamt „quasi-religiöse“ „Greenists“ und attestiert eine Verwobenheit mit Misanthropie, Depopulationsfantasien und Nazi-Ideologie.
Der humanistische Gegenentwurf zu dieser verachtenswerten Form von Umweltliebe sei der Öko-Modernimus (eco-mordernism), der akzeptiert, dass jegliche Form von Fortschritt gut und jegliche Umweltverschutzung und Verlust von Lebensraum dagegen abzuwägen sei — auch hier also wieder eine etwas eigenwillige Interpretation des Begriffs „Fortschritt“. Diesen Verlust an Umwelt könne man aber mit technologischen Mitteln „verhandeln“, um mehr positive Auswirkungen des Fortschritts mit weniger negativen Folgen für die Umwelt zu erreichen. „Sauberer ist besser“, aber nicht um den Preis „alles anderen“. Dieser ganze seltsame Doppelsprech klingt durchgängig nach der Maxime: erst die Technologie entwickeln und danach schauen, wie wir mit den Schäden zurechtkommen — saubere Luft könne über die Zeit „erschwinglicher“ werden. Das ist natürlich die Umkehrfunktion des in Europa dominierenden Vorsorgeprinzips.
Sich moralische Sorgen um das Aussterben des schwarzen Nashorns und das Wohlbefinden unserer Nachfahren im Jahr 2525 zu machen, sei wichtig, aber „Luxus“.
Probleme wie das Bienensterben, das ganz direkte Wirkung auf das Überleben der Menschheit hat, vergisst er zu erwähnen. Obwohl in den USA viele Bienenzüchter schon nur noch überleben können, wenn sie ihre Völker zum Bestäuben von Plantagen vermieten. Da es zu wenige wilde Bienen gibt, besteht nach dieser Dienstleistung eine hohe Nachfrage [5]. Ob das Nashorn oder andere Spezies in einem komplexen Ökosystem eine wichtige Funktion hat, die wir nur nicht kennen, interessiert ihn nicht. Das Problem ist: Wenn die Nashörner ausgestorben sind, kann man sie nicht aus ein Paar Haaren wieder „klonen“ — Pinker würde hier wohl einwerfen: Noch nicht!
Genau hier begeht er wieder den Fehler 4 „Illusion von Wissen“ (und Potenzial) — er wirft sogar der Ökobewegung vor, den gegenteiligen Fehler zu machen: übermäßige Skepsis gegenüber unserem Wissen und unserer Möglichkeiten. Das ist aber wieder ein Urteilsfehler seinerseits, denn normalerweise müsste man annehmen, dass der viel wahrscheinlichere Fehler 4 innerhalb der Ökobewegung genau die gleiche Verteilung aufweist wie in der Gesamtbevölkerung. Außer man würde unterstellen, genau eine Minderheit, die eher der Umkehrfunktion von Fehler 4 erliegt, würde genau deswegen die Ökobewegung bilden. Eine kaum haltbare These, die Pinker selbst eigentlich verwerfen würde, schon weil sie eine monokausale Erklärung bietet — genau deswegen stellt er sie wahrscheinlich nicht explizit auf.
Im gleichen Kapitel weist er dann genau auf diesen Fehler (Illusion von Wissen) hin, aber natürlich nur, weil es hier zu seiner Argumentation passt: Der Biologe Paul Ehrlich schloss eine Wette mit dem Ökonomen Julian Simon ab, dass fünf Metalle bis zum Ende der Dekade rarer und teurer werden würden. Er verlor diese Wette.
Natürlich greift er auch das Buch „Die Grenzen des Wachstums“ an, mit genau der Argumentation, die die Autoren 1972 schon vorausgesehen haben. Das Buch hätte das Ende bestimmter Rohstoffe bis heute vorausgesagt, trotzdem wären diese Rohstoffe noch genügend vorhanden. Die Autoren schrieben schon in der ersten Ausgabe sinngemäß: Nageln sie uns nicht fest darauf, dass ein bestimmter Rohstoff in einem bestimmten Jahr ausgeht. Das Modell, mit dem wir rechnen, ist sehr komplex und je nachdem, welche Ausgangswerte wir ansetzen, sind die Jahreszahlen sehr verschieden. Aber der Trend ist immer der gleiche: In absehbarer Zukunft werden wir die Grenzen erreichen. Wir haben sogar eine Berechnung durchgeführt unter der Annahme, Energie sei kostenlos und unbegrenzt verfügbar. Das Ergebnis war wieder das gleiche.
Es gibt außerdem wissenschaftliche Arbeiten, die schon vor Jahren genau zu einem anderen Ergebnis als Pinker gekommen sind. Zwei Studien der Universität Melbourne 2008 und 2014 stellten fest, dass sich die Welt ziemlich genau nach der „Standardmodellierung“ aus der MIT-Studie entwickelt hat [16][17]. Im April 2016 kam eine vom englischen Parlament in Auftrag gegebene Studie ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es beunruhigende Beweise („unsettling evidence“) gibt, dass wir uns weiterhin auf den vorskizzierten Bahnen der ursprünglichen Studie bewegen. [18]
Im Falle der Landwirtschaft empfiehlt Pinker Pflanzen zu züchten, die auf engerem Raum wachsen können und mehr Nährstoffe enthalten. Ökologische Landwirtschaft sei genau das Gegenteil, sie wäre weder platzsparend noch überhaupt nachhaltig. Mit ein paar Sätzen ist dieses Thema für ihn dann abgehandelt. Den Zusammenhang zwischen Lebensqualität und natürlich gewachsenen, besser schmeckenden Pflanzen stellt er beispielsweise nicht her. Man kann nur vermuten, dass der Geschmack ein weiteres Problem ist, welches der „Fortschritt“ schon lösen werde. Entweder gewöhnen sich die Leute an den neuen Geschmack oder irgendwann züchtet man den Pflanzen schon wieder besseren Geschmack an, mag er sich denken. Ausgelaugte Böden durch Monokultur erwähnt er ebenfalls nicht. Wenn die Nutzpflanzen dichter angebaut werden und die Menschen in dichteren Wohneinheiten in den Städten leben, sei außerdem wieder mehr Platz für natürliche Habitate für Pflanzen und Tiere. Wie sichergestellt werden soll, dass die frei werdenden Flächen nicht ebenso industriell genutzt werden oder durch „Fortschritt“ (zum Beispiel Fracking) bereits unwiederbringlich zerstört wurden, scheint wie so vieles kein Thema zu sein. Es ist außerdem erwiesen, dass abgeholzter Urwald in dieser Form nicht wieder zurückkehrt. Welche Gleichgültigkeit muss man für den Geschmack des Essens empfinden, um noch mehr auf Leistung getrimmte Pflanzen als Fortschritt anzusehen? Wer weiß, wie viel besser natürlich gewachsene Pflanzen schmecken, Eier von richtig freilaufenden Hühnern, Fleisch, das nicht aus Massentierhaltung stammt, der muss Pinker hier widersprechen. Aber das ist für einen Öko-Modernisten wahrscheinlich nur absurde Öko-Nostalgie.
Klimawandel
Dem Klimawandel widmet er zum Glück den größten und besten Teil des ganzen Kapitels, vielleicht des ganzen Buches — aber auch hier nicht ohne Wermutstropfen. Er zählt in atemberaubender Geschwindigkeit die Gründe und Auswirkungen des Klimawandels auf und beleuchtet die Standpunkte der Skeptiker. In klaren Worten legt er dar, dass jeglicher Zweifel am vom Menschen ausgelösten Klimawandel inzwischen wissenschaftlich widerlegt ist.
Die einzige Möglichkeit, die Erwärmung auf 2 Grad zu beschränken, sei, den Ausstoß von Treibhausgasen bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts auf die Hälfte zu schrumpfen und bis zum Anfang des 22. Jahrhunderts komplett einzustellen. Schon dies ist eine umstrittene These, da immer mehr Wissenschaftler das 2-Grad-Ziel als heute schon nicht mehr erreichbar ansehen. Auch hier verschweigt Pinker, dass das, was er als Fakt ansieht, durchaus auch als optimistisch angesehen werden kann.
Den Beitrag der Massentierhaltung zu den Treibhausgasen gibt er mit 5,5 Prozent an. Auch hierzu gibt es deutlich andere Werte, die bis zu 51 Prozent (Livestock and Climate Change) gehen, wobei allein der Methanausstoß schon 5 Prozent ausmacht [6]. Konservativere Studien gehen von Werten von knapp 20 Prozent aus. Vergisst er hier, sekundäre Treibhausgasquellen mit einzurechnen?
Auch hier darf natürlich eine Art Gegenposition nicht fehlen, diesmal in Form eines beispielhaften Briefes. Das Schreiben enthält teilweise offensichtlich unsinnige Vorschläge zur Eindämmung des Klimawandels. Ob er sich nun zu Recht über diese Positionen lustig macht oder nicht — es wirkt jedenfalls wieder wie eine pauschale Abwertung aller Personen, die nicht seiner Meinung sind. Diese Polemik überschattet allerdings einen wichtigen Punkt, dem Pinker mehr Deutlichkeit verleihen könnte: Wir werden das Klima wahrscheinlich nicht retten, indem sich alle Menschen freiwillig einschränken — es geht nur über politisch gesteuerte, groß angelegte Maßnahmen.
Als positiven Trend stellt Pinker dar, dass die Menschen ja CO2-Reduktion schon immer betrieben haben, indem sie mit ihren Brennstoffen zu immer höheren Energiedichten wechselten. Genau diesen Fakt könnte man aber auch anders auslegen: Obwohl die Menschen lernen, mehr Energie mit weniger CO2 zu erzeugen, stieg der gesamte CO2-Ausstoß kontinuierlich an, eben weil mit besserer Energietechnik der Energiebedarf auch angestiegen ist. Das macht es viel schwerer, das Energieangebot weiter zu erhöhen, während man Brennstoffe mit höherer Energiedichte und weniger Treibhausgas-Ausstoß findet. Getreu dem Motto, das Pinker gern zitiert: Was nicht für immer weitergehen kann, wird das auch nicht tun.
Das Thema Energiedichte führt nun zu einem kontroversen Thema: Strom aus Atomkraft. Ob die Ausführungen dieses Buches allerdings von der Ökobewegung neutral aufgenommen werden können, nachdem Pinker mit allen Mitteln versucht, diese vermeintlichen Gegner der Lächerlichkeit preiszugeben, darf stark bezweifelt werden. Atomstrom nennt er erst „kohlenstofffrei“, was natürlich blanker Unsinn ist, außer man blendet wirklich alle sekundären CO2-Quellen aus — später sagt er dann doch noch „carbon low“. Auch wirkt seine Beschreibung der Unfälle von Fukushima und Tschernobyl wie eine Verharmlosung, da er die Schäden nur nach der Anzahl der Toten bemisst und verseuchtes Land und Wasser sowie die entstehenden Kosten ausblendet. Aus meiner Sicht sollte jedoch genau diese Energiequelle viel offener und unvoreingenommener diskutiert werden. Neue AKWs mit der bestehenden Technologie zu bauen, wäre natürlich unsinnig, das Geld könnte man besser in erneuerbare Energien investieren. Neue Reaktortypen, wie z. B. der Laufwellenreaktor, die längerfristig vielleicht Vorteile bieten, sind noch nicht verfügbar, aber hier sollte weiter geforscht werden. [19]
Noch besser und umweltverträglicher, und mit deutlich weniger Gefahr bei Unfällen verbunden, wäre natürlich die breite Nutzung der Kernfusion. Wir sollten uns aber auf keinen Fall darauf verlassen, dass dies in 30 Jahren oder weniger zur Realität wird, wie von Pinker postuliert. Dies ist eine riskante Wette auf die Zukunft, die man nicht eingehen darf.
Da wir nicht nur den Ausstoß von Treibhausgasen auf null senken, sondern auch bestehendes CO2 aus der Luft entfernen müssen, sind weitere Aktionen notwendig. Zum einen schlägt er den natürlichen Weg über den Anbau von Pflanzen vor, die CO2 aus der Luft binden, zum anderen sympathisiert er dann aber auch mit verschiedenen Methoden, von „unzuverlässig“ bis „eher bewiesen“, wie Geoengineering und genveränderte Algen.
Gegen Ende des Kapitels gibt er zu, dass es selbst unter den besten Bedingungen und mit viel Glück keine Garantie gibt, dass wir die Klimaziele erreichen können. Als letzten Strohhalm flirtet er darum mit weiteren Geoengineering-Maßnahmen, um mehr Sonnenlicht zurück ins Weltall zu reflektieren. Dazu gehört: Sulfate aus Flugzeugen in der Luft verteilen und Meerwasser mit Schiffen in die Luft sprühen.
Gerade das Geoengineering ist in allen Formen ein äußerst gefährliches Unterfangen und sollte nicht als letzter Strohhalm, sondern eher als letzter verzweifelter Versuch bezeichnet werden. In dieser Form in das Klimasystem und das Ökosystem einzugreifen, kann unvorhergesehene Konsequenzen haben, da wir die beteiligten Vorgänge nicht alle kennen und die, welche wir kennen, verstehen wir nur unvollständig. Wie dieses Thema im Buch behandelt wird, ist darum viel zu undifferenziert — unter dem Strich klingt es eher wie etwas, das man ja mal ausprobieren könnte, in kleinen Dosen, dann schauen, was passiert, und ggf. nachjustieren. Hier widerspricht sich Pinker indirekt auch wieder selbst, da er zugibt, dass es keine Theorie gibt, die Aussagen über die ganze Welt treffen kann, und er auch eingesteht, dass es den Schmetterlingseffekt gibt, bei dem kleine Änderungen riesige Auswirkungen haben können. Wie inzwischen wohl jeder weiß, trifft beides gerade auf das Wetter und somit das Klima zu. Wir wissen zum Beispiel viel zu wenig über die Meeresströmungen, die am Weltklima beteiligt sind (The Great Conveyor Belt) [7]. Wenn Geoengineering oder irgendetwas anderes dieses System verändert, könnte beispielsweise Deutschland sehr harte Winter bekommen oder Irland zu einer Tropeninsel oder umgekehrt … oder keines von beiden — wir wissen es einfach nicht mit letzter Sicherheit. [21]
Forscher, die an Geoengineering arbeiten, sagen selbst: Ich hoffe, wir müssen diese Technologien nie einsetzen [13]
No theory can make a prediction about the world at large, with its 7 billion people spreading viral ideas in global networks and interacting with chaotic cycles of weather and resources. To declare what the future holds in an uncontrollable world and without an explanation of why events unfold as they do, is not prediction but prophecy.
Natürlich ist das auch wieder ein klassischer Fall der „Illusion von Wissen“, der Pinker hier aufsitzt.
Fazit
Insgesamt habe ich in dieser Kritik fast ausschließlich die negativen Seiten des Buches behandelt. Es gibt durchaus auch positive Aspekte an diesem Buch, die aber aus meiner Sicht von den negativen deutlich in den Schatten gestellt werden. Dieses Werk, oder auch „Machwerk“, umfassend und ausgeglichen zu besprechen und dabei unter dem Umfang des eigentlichen Buches zu bleiben, stellt ein unmögliches Unterfangen dar. Selbst in den Kapiteln, die ich hier besprochen habe, gibt es noch zahlreiche Unzulänglichkeiten. Die nicht besprochenen Kapitel sehen übrigens auch nicht besser aus. Viele Kritikpunkte musste ich schweren Herzens weglassen, um diese ohnehin schon sehr umfangreiche Kritik nicht unlesbar zu machen. Neben dem, was Pinker schreibt, ist das, was er weglässt, mindestens genauso wichtig — aber eben schwerer zu erkennen.
Zahlen, sagt man ja, seien unbestechlich. Einige der Zahlen, die uns hier präsentiert werden, sind aber (mehr oder weniger offensichtlich) falsch, viele habe ich nicht überprüfen können. Ich will also nicht sagen, dass alles in diesem Buch falsch ist. Was an dem Buch so beunruhigend ist, ist die Mischung aus wissenschaftlichen Fakten mit Verzerrungen und Irrtümern, übertriebener Vereinfachung, Spott gegenüber Kritikern, voreiligen Schlüssen oder gar unlogischen Folgerungen. Wie kann der Leser auf irgendetwas in dem Buch vertrauen, wenn so viel davon schon falsch ist?
Der Schreibstil hinterlässt bei mir einen unangenehmen Propagandageschmack und ich bin besorgt, dass die Leser für diese Art von unlogischer Argumentation immer unempfindlicher werden könnten. Wenn Menschen diese trügerische und aggressive Rhetorik von einem Wissenschaftler akzeptieren, wie anfällig sind sie dann für den gleichen Stil der Manipulation durch andere Gruppen, von denen einige Interessen haben könnten, die dem Wohlergehen ihrer Leser abträglich sind?
Pinkers Stil ist außerdem ungeeignet, verhärtete Fronten zu seinen Gegnern aufzulösen. Wer ständig dazu beiträgt, die Gräben zu vertiefen, darf nicht erwarten, dass die andere Seite über ihren Schatten springt. Um aber zum Beispiel das Klimaproblem zu lösen ist ein offener und konstruktiver Dialog unabdingbar.
Dieses Gesamturteil über „Enlightenment Now“ ist umso betrüblicher, als wir anhand der drohenden Menschheitsprobleme tatsächlich etwas Aufmunterung gut gebrauchen könnten. Trotz gegenteiliger Beteuerung des Autors höre ich im Subkontext des Buches eher den Aufruf zur Passivität. Gerade der unbedingte Glaube an das durchwegs Positive im „Fortschritt“ (nach Pinkers Lesart) steht nach meiner Auffassung in direktem Gegensatz zu einem der Kernsätze der Aufklärung: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Dieser „Fortschritt“ wird heute von einer kleinen, elitären und ideologisch relativ homogenen Gruppe gestaltet, zum Beispiel im Silicon Valley oder an der Wall Street. Eine Gruppe, unter deren herausragendsten Eigenschaften man Altruismus und Humanismus wahrscheinlich nicht unter den Top 5 einordnen würde. Der Verstand des Einzelnen spielt heute, gegenüber einer immer zentralistischer agierenden Wirtschaftsmacht, quasi keine Rolle mehr — die individuellen Handlungsspielräume sind bereits sehr klein und schrumpfen weiter. Pinkers eigenes Beispiel bezüglich des Klimawandels spricht hierbei Bände. Das Versprechen des Marktes, die Macht mit dem Geldbeutel zu wählen, ist eine Lüge. Auch so ein Widerspruch, den der eher marktgläubige Pinker nicht aufzulösen vermag.
Die Tendenz der Menschen, im Status Quo zu verharren, wird durch den positiven Tenor des Buches eher verstärkt, ein Urteilsfehler der als Status-Quo-Bias auch Steven Pinker bekannt ist. Diese Verharrer waren es aber eben nicht, die in der Vergangenheit die großen Verbesserungen wie Menschenrechte, Feminismus, Abschaffung von Apartheid, Säkularisierung, Gleichbehandlung von Homosexuellen etc. erreicht haben — es waren die immer unzufriedenen Rebellen.
So lässt sich dieses Buch und mein Fazit in einem altbekannten Aphorismus zusammenfassen:
“Lächle und sei froh, denn es könnte schlimmer kommen!” — und ich lächelte und war froh, und es kam schlimmer.
Andere kritische Auseinandersetzungen mit Pinkers Buch:
Nature: The limitations of Steven Pinker’s optimism
Steven Pinker’s Ideas About Progress Are Fatally Flawed. These Eight Graphs Show Why.
[1] Precht spricht mit Harald Lesch
[2] Kahneman, Daniel und Krueger, Alan (2006): Developments in the Measurement of Subjective Well-Being, Journal of Economic Perspectives, Vol. 20, №1, pp 3–24
[3] Kahneman, Daniel und Deaton, Angus (2010): High income improves evaluation of life but not emotional well-being http://www.pnas.org/content/107/38/16489
[4] Ungleichheit und Krieg
http://www.handelsblatt.com/my/politik/deutschland/kriegsende-mythos-und-wirklichkeit/11750878.html
[5] Netflix, Verdorben, S1/1, “Anwälte, Waffen und Honig“
https://www.welt.de/wissenschaft/umwelt/article114029771/Wilde-Insekten-muessen-Honigbienen-unterstuetzen.html
[6] Livestock and Climate Change
https://www.simply-live-consciously.com/deutsch/ern%C3%A4hrung-umwelt/51-der-treibhausgase/
[7] Great Conveyor Belt
Netflix, Alien Deep with Bob Ballard, Folge 4
[8] Video: Kognitive Verzerrungen (englisch)
[9] Video: Progressives hate progress (englisch)
[10] https://www.br.de/themen/wissen/intelligenz-iq-test-intelligenztest-100.html
[11] Stephen Murdoch — IQ, A Smart History Of a Failed Idea*
[12] NZZ: Ist der Intelligenzquotient pseudowissenschaftlicher Schwindel?
[13] Vice Doku über Geoengineering: Geoengineering Forscher über den Einsatz ihrer Forschungsergebnisse
[14] Brian Ferguson: Pinker’s List: Exaggerating Prehistoric War Mortality
[15] Cirillo/Taleb: On the statistical properties and tail risk of violent conflicts
[16] University of Melbourne: Limits of Growth
[17] The Guardian: Limits to Growth was right. New research shows we’re nearing collapse
[18] Limits Revisited: a review of the limits to growth debate
[19] Harald Lesch: Atomkraft jetzt! Rettung für das Klima?
[20] Ulrike Herrmann bei Jung & Naiv, Ulrike Herrmann: Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen*
[21] https://www.arte.tv/de/videos/094789-000-A/eisschmelze-bedroht-golfstrom/ (nur verfügbar bis 11.02.2020)
[22] Y2038 Problem: aktuelles Beispiel (Twitter)
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