COVID19 Kollateralschäden

06.07.2020

Offener Brief zu SARS-CoV-2

Ursprüngliche Veröffentlichung: 03.04.2020


Photo by engin akyurt on Unsplash

Liebe Politiker*innen, liebe Richter*innen am BVerfG, liebe Mitbürger*innen,

in der Moralphilosophie gibt es viele Gedankenspiele. Diese sehen meistens so aus:

Sie stehen an einer Bahnstrecke, vor einem Hebel, der eine Weiche bedient. Von der einen Seite kommt ein Zug. Sie können mit dem Hebel der Weiche entscheiden, welchen Weg der Zug nimmt. Auf dem einen Gleis stehen eine Anzahl Menschen und können dort auch nicht weg, auch auf dem anderen Gleis stehen Menschen, die ebenfalls dort nicht wegkönnen. Entweder sie sind festgebunden oder es ist eine Brücke, von der sie nur in den sicheren Tod springen können, usw. Sie verstehen das Prinzip: Wenn der Zug auf diesem Gleis fährt, werden diese Menschen sterben, so oder so, man kann es nicht verhindern. Sie, am Hebel, können aber entscheiden, wer stirbt.
Diese Szenarien gibt es in tausend verschiedenen Varianten: alte Menschen auf dem einen Gleis, Kinder auf dem anderen, ein Mensch auf dem einen, mehrere auf dem anderen. Oft entscheiden sich Menschen, nicht einzugreifen, den Hebel nicht anzufassen. Das ist dann halt Schicksal. In der Psychologie nennt sich das Status-Quo-Bias oder Default-Option-Bias: In Entscheidungssituationen, die wir nicht logisch oder emotional relativ einfach lösen können, entscheiden wir uns, nichts zu tun, die vorausgewählte Option zu nehmen.

Nun, in Deutschland haben wir den Hebel betätigt. Wir, das heißt unsere gewählten Vertreter haben entschieden wer sterben bzw. leiden soll. Demnächst wird es in Deutschland Tote geben, die ausgewählt wurden, anonym, in unbekannter Zahl. Sie werden sterben wegen SARS-CoV-2, aber nicht an dem Virus. Die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen werden einiges Leid über die Bevölkerung bringen. Es ist absehbar, dass die Selbstmordrate steigen wird, häusliche Gewalt und Kindeswohlgefährdung werden sich vermehren, Menschen werden Traumata erleben, die sie ihr Leben lang begleiten und belasten werden. Für dieses Schicksal wurden sie ausgewählt.

Ich möchte es hier schon sagen: Es gibt keine Lösung für dieses Dilemma. Ich weiß auch nicht, was besser gewesen wäre. Ich hätte den Hebel auch betätigt. In den Details hätte ich sicher andere Entscheidungen getroffen, aber auch ich hätte gehandelt. Es scheint in dieser Situation keine Option zu sein den Default zu wählen und einfach einen unbestimmten Prozentsatz der Risikopatienten sterben zu lassen. Aber ich kann auch nicht schweigen. Ich kann nicht stillschweigend einfach die Anderen auswählen. Dieser Diskurs muss in die Öffentlichkeit. Dieser Diskurs muss auch nach Karlsruhe, vor das Bundesverfassungsgericht. Die Richter dort werden demnächst über die Rechtmäßigkeit der Grundgesetzeinschränkungen urteilen müssen, und sie müssen auch über diesen Aspekt nachdenken und sprechen. Alles andere wäre eine Abwertung der Menschen, die in der bestehenden Situation werden leiden und sterben müssen. Es hieße: Ihr seid Menschen zweiter Klasse, ihr seid uns egal. Das wäre unvereinbar mit den Artikeln 1, 2 und 3 Grundgesetz und den Artikeln 1, 2 und 3 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Es gibt eine Richtung der Philosophie, die sich Utilitarismus nennt. Der Grundsatz des Utilitarismus ist, vereinfacht dargestellt, „das größte Glück der größten Zahl“ von Menschen. Dieser Satz mag noch einleuchtend klingen, aber der Teufel steckt im Detail, in der praktischen Umsetzung. Die Utilitaristen haben versucht Formeln zu entwickeln, um das Glück bzw. das Wohlergehen der Menschen mathematisch darzustellen und so berechenbar und vergleichbar zu machen. Dieser Ansatz hat sich zum Glück nicht durchgesetzt. Aber er würde in der jetzigen Situation sowieso scheitern: Wir wissen nicht wer in welchem der vielen möglichen Fälle sterben wird. Was übrig bleibt ist die sogenannte „Realpolitik“: Politiker sind in der Situation auf abstrakter Ebene entscheiden zu müssen, wer leben und wer sterben darf, ohne diese Menschen zu kennen, ohne zu wissen wie viele es sein werden.

Die jetzt getroffenen Einschränkungen finden in der Bevölkerung scheinbar breite Zustimmung. Das macht es den Politikern deutlich schwerer, die Einschränkungen zu lockern. Jeder zusätzliche COVID Tote wird der Lockerung zugeschrieben werden. Von diesem Punkt scheint es nur die Möglichkeit zu geben, die Kontaktverbote beizubehalten oder zu verschärfen. Das ist das Problem, wenn man, wie in Bayern oder Sachsen sofort mit einem besonders hohen Grad an Einschränkungen aufwartet: Ein Zurück birgt ein hohes politisches Risiko, selbst wenn es objektiv sinnvoll oder geboten wäre.

2006 hob das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz wieder auf, das dem Innenminister die Entscheidungsgewalt zusprach, ein Flugzeug abschießen zu lassen, das während eines Terroranschlages in eine Menschenmenge gesteuert werden soll (§14 Abs. 3, Luftsicherheitsgesetz). Das Argument der obersten Verfassungsrichter: Leben dürfe niemals gegen anderes Leben aufgewogen werden. Wenn dieser Grundsatz immer gilt, sind die bestehenden Verbote zum Infektionsschutz definitiv nicht rechtmäßig. Thomas de Maizière (damaliger Innenminister) hätte 2015, in einem entsprechenden, fiktiven Szenario, dem Stück „Terror“ von Ferdinand von Schirach, den Abschuss eines Flugzeuges mit 164 Menschen als rechtmäßig empfunden um 70.000 Menschen zu retten. Wer will ihn dafür richten?

Im vorliegenden Fall ist es allerdings noch etwas schwieriger. Die möglichen Toten und das mögliche Leid, welches durch die Grundgesetzeinschränkungen erzeugt wird, ist nicht so unmittelbar erkennbar und es ist eine Bedrohung, die, zumindest teilweise in der Zukunft liegt. Die Suizide und die häusliche Gewalt passieren jetzt schon — die Traumatisierung passiert auch, bleibt aber unsichtbar. Die Auswirkungen sind diffus, irgendwo über die Zukunft verteilt und nicht klar dem jetzigen Geschehen zuzuordnen. Hier tun sich Parallelen zum Klimawandel auf: Auch hier sehen wir heute schon die Zeichen, die wirklich schweren Auswirkungen sind aber Horrorgeschichten aus der Zukunft. Viele hoffen immer noch, dass das Schlimmste uns erspart bleibt. Ironischerweise kauft uns diese Pandemie beim Klimawandel unter Umständen etwas Zeit: durch die massiven Einschränkungen in der Wirtschaft gelangt weniger CO2 in die Atmosphäre. Wie viel Leid und Tod wird uns das ersparen? Wir können es nicht beantworten. Wie beim Klimawandel hilft uns aber auch hier die Tatsache, dass die Auswirkungen unseres Handelns nicht direkt erkennbar sind, einen Teil dieser Folgen unseres Handelns oder nicht-Handelns zu ignorieren. Menschen brauchen, um zu lernen und ihr Handeln anzupassen, möglichst kurze Feedback Schleifen, das heißt sie müssen die Auswirkungen zeitlich möglichst bald und direkt spüren. Für den demokratischen und den rechtsstaatlichen Prozess gilt das nicht. Politiker und Verfassungsrichter müssen versuchen, möglichst detailliert zu antizipieren, welche Folgen die heute getroffenen Entscheidungen auch in fernster Zukunft haben werden. Ich beneide sie um diese Aufgabe nicht, und ich fürchte, ich habe sie ihnen gerade noch etwas schwerer gemacht.

 

Anmerkung 06.07.2020: Es scheint so zu sein, dass zumindest der durch die Kontaktbeschränkungen verursachte Anstieg der Suizide ausgeblieben ist. Das ist eine gute Nachricht. Häusliche Gewalt und Kindergefährdungen sind allerdings wie prognostiziert angestiegen.