"Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" von Karl R. Popper - Zusammenfassung, Teil 1

27.09.2020

Immer wieder höre ich, vor allem Liberale, von der offenen Gesellschaft reden. Sie erklären was aus ihrer Sicht Teil der offenen Gesellschaft ist und was nicht. Dabei wird impliziert, dass wir heute in der offenen Gesellschaft leben und auch leben wollen. Der Begriff „offene Gesellschaft“ bleibt dabei oft eine Projektionsfläche für die Wünsche der Zuhörer und auch des Sprechenden selbst. Offene Gesellschaft, das klingt nach Freiheit, Weltoffenheit, nach unbegrenzten Möglichkeiten, es klingt nach einer Gesellschaft, in der sich die Menschen keinen Zwängen unterwerfen müssen. Dieser Begriff hat eine beinahe magische, positive Wirkung auf fast jeden, der ihn hört, ohne ein klares Bild zu haben, was es im Detail bedeutet. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn der Schöpfer des Begriffes, der Philosoph Karl Raimund Popper, stellt sich genau gegen jede Art von Magie und orakelnder Philosophie. Er vertritt einen streng rationalen und kritischen Ansatz. Natürlich war es aber auch Popper, der sich gegen die Definition von Begriffen gewehrt hat. Für ihn ist die Bedeutung eines Begriffs dynamisch und entsteht und wandelt sich im Diskurs.

Der Begriff „offene Gesellschaft“ stammt in seiner heutigen Verwendung aus seinem 1945 erschienenen Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. In dieser Videoserie möchte ich auf die einzelnen Themen eingehen, die Popper in dem zwei Bände umfassenden Werk behandelt, und erklären, was Popper unter dem Begriff „offene Gesellschaft“ versteht. Ich werde versuchen, aus jedem Kapitel die zentralen Beschreibungen und Argumentationslinien zu destillieren, und auch aus dem umfangreichen Katalog an Anmerkungen, die Punkte einfließen lassen, die mir maßgeblich erscheinen.

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Anmerkung: Ich beschreibe hier die Meinung Poppers und versuche sie möglichst getreu dem Buch darzustellen. Ich behaupte nicht, dass sie immer richtig und konsistent ist. Damit dient diese Zusammenfassung hauptsächlich dem Studium Poppers und nur sehr bedingt dem Studium der beschriebenen Personen, wie z. B. Platon oder Hegel. Wie immer bei Sekundärliteratur, so habe auch ich trotz aller Bemühungen nicht den objektiven Schlüssel zu Poppers Gedanken, es bleibt meine Interpretation. Sekundärliteratur ist immer eine Krücke. Wenn diese Beschreibung dein Interesse weckt, dann empfehle ich unbedingt die Lektüre des Originals.

Kapitel 1 – Der Historizismus und der Schicksalsmythos

In diesem kurzen Kapitel erklärt er, was er unter Historizismus versteht, nämlich „die Lehre, daß die Geschichte von besonderen historischen oder Entwicklungsgesetzen beherrscht ist, deren Entdeckung uns die Möglichkeit geben würde, das Schicksal der Menschen vorauszusagen.“

Er nennt verschiedene Historizismen, die sich auf unterschiedliche Grundlagen stützen:

-       naturalistisch

-       spirituell

-       ökonomisch

-       theistisch

Der theistische Historizismus unterscheidet sich von den anderen dadurch, dass es hier der Wille Gottes ist, der den Verlauf der Geschichte bestimmt.

Auch hat der Historizismus oft Elemente des Tribalismus, also der Stammesgesellschaft, oder aber kollektivistische Elemente. Unter Kollektivismus versteht Popper „eine Lehre, die die Bedeutung eines Kollektivs oder einer Gruppe wie des «Staats» (oder eines bestimmten Staates; einer Nation; einer Klasse) der Bedeutung des Individuums gegenüber hervorhebt.“, ggf. so weit, dass das Individuum ohne die Gruppe zum bloßen Nichts wird.

Der Historizismus schütz sich gegen Kritik, indem er das Ziel der Geschichte als „in der fernsten Zukunft“ liegend und nur über einen verschlungenen Weg zu erreichend darstellt. So können kurzfristige Rückschläge, schicksalshafte oder von anderen absichtlich herbeigeführte, nicht als Gegenbeweis zur Vorbestimmtheit dienen.
Die historizistischen Ansichten haben ihren Ursprung laut Popper in den Theorien Heraklits, Platons und Aristoteles, von wo sie über Hegel und die sich auf ihn berufen, beispielsweise die Rassenlehre, aber auch der Marxismus, in die Neuzeit transportiert wurden.

Kapitel 2 – Heraklit

Laut Popper führte Heraklit die Ansicht in die Philosophie ein, die Welt sei bestimmt von der Gesamtheit der ablaufenden Prozesse, nicht von den Dingen, die sich in der Welt befinden, und dem Material, aus dem die Dinge bestehen.
Er beschäftigte sich als erster intensiv mit „ethisch-politischen Problemen“, wahrscheinlich da er in einer Zeit in Griechenland lebte, in der die Stammesaristokratie langsam durch die Demokratie abgelöst wird. Heraklit selbst war in der Stammeshierarchie weit oben angesiedelt, verzichtete aber zugunsten seines Bruders auf eine politische Funktion, als Haupt der königlichen Familie. Trotzdem unterstützte er die Sache der Aristokraten nach Kräften und verachtet die Demokratie und das gemeine Volk.
Dass Stammesaristokratie schließlich abgelöst wurde, hinterließ einen schwerwiegenden Eindruck bei Heraklit. Nach seiner Theorie der Veränderung, darf man sich auf nichts verlassen. „Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen.“ Zitiert ihn Popper. Trotz des übermäßigen Glaubens an ständige, radikale Veränderung, glaubt Heraklit aber, dass alles auf ein Ziel zugeht. Hier zieht Popper Parallelen zu den späteren Historizisten: So sehr sie von der ständigen Veränderung besessen sind, so stark scheint auch ihre Furcht vor einer instabilen Welt zu sein. Es scheint, als versuchten sie diesen inneren Widerspruch dadurch aufzulösen, dass sie an unveränderliche Gesetze dieser Veränderung glauben.

Heraklit geht so weit, alle materiellen Dinge als Umwandlung des Feuers zu sehen, und „Jeder Prozeß in der Welt, insbesondere das Feuer selbst, entwickelt sich nach einem wohlbestimmten Gesetz, seinem «Maß»“ (Popper). Diese Weltordnung, ähnlich unserer Naturgesetze, kommt nicht vom Menschen und nicht von einem Gott. Sie steht über allem, bestimmt alles, erzeugt und vernichtet alles. Popper interpretiert diese Theorie als den Machtanspruch einer höheren Vernunft, die durch Bestrafung durchgesetzt wird und das Urteil dieser Vernunft sei für Heraklit auch gleichzeitig ein moralisches Urteil: alles was passiert ist somit gerecht, auch der Ausgang von Kriegen und die Einteilung in Freie und Sklaven. Gesetzgebung und Rechtsprechung hält er scheinbar für überflüssig. Wer im, möglicherweise auch gewaltsamen, Streit gewinnt, der hat auch Recht.
Obwohl Heraklit einen strikten Werterelativismus vertritt („Das Gute und das Böse sind dasselbe“) hängt er doch einem Kriegsheldenkult an.
Von der Wissenschaft hält Heraklit ebenfalls nichts. Bei ihm findet sich schon die Ansicht, dass wer nur wenig Besitz ergattern kann, auch nicht viel Verstand haben könne, wie eben die Wissenschaftler seiner Zeit. Einigen Auserwählten, den „Wachenden“, offenbart sich die höhere Vernunft allerdings auf mystische Weise.

Popper sieht eine Verbindung zwischen dem Aufkommen und den Inhalten einer historizistischen Lehre mit großen sozialen Veränderungen, vor allem der Auflösung von tribalistischen Strukturen. Er sieht in der Geschichte mehrere Fälle, die darauf hinweisen.

Kapitel 3 – Platons Ideenlehre

I

„Platon lebte in einer Zeit von Kriegen und politischen Erschütterungen, die nach allem, was wir wissen, noch viel unruhiger war als die Zeit, die Heraklit Sorge bereitet hatte.“ In Athen, wo Platon aufwuchs, herrschte bereits Demokratie, doch lag es im Krieg mit dem eher tribalistisch organisierten Sparta, bis Platon ca. 28 Jahre alt war. Auch Platon entstammte einer königlichen Familie väterlicherseits. Die Familie seiner Mutter hatte Verbindungen zu der Familie Solons und zwei seiner Cousins mütterlicherseits waren die führenden Männer der Dreißig Tyrannen. Platon selbst war stets politisch interessiert und wollte sich engagieren, doch er „sah daß alles schwankte und sich ziellos änderte; da fühlte ich mich schwindlig und verzweifelt“. Popper glaub nun, dass auch hier das Gefühl, alles befinde sich im ständigen Fluß, viel zu seiner Philosophie beigetragen habe. Bei Platon allerdings „führt jegliche soziale Veränderung zu Verderbnis, zum Verfall oder zur Degeneration“ (Popper). Doch auch er scheint an bestimmte zyklische Prozesse zu glauben, die sich über einen sehr langen Zeitraum abspielen, und in denen es auf und abwärts geht. Er selbst wähnt seine Zeit als eine der Phasen des schlimmsten Abstiegs. Platon glaubt allerdings, dass es uns durch „menschliche oder vielmehr übermenschliche Anstrengung möglich sei, den verhängnisvollen historischen Ablauf zu durchbrechen und dem Verfallsprozess ein Ende zu machen“ (Popper, Kursiv im Original).

II

Hier sieht Popper einen wichtigen Unterschied zwischen Platon und Heraklit, wobei allerdings unklar ist, wie Platon diese Möglichkeit der Selbstbestimmung mit seiner Philosophie der Schicksalsgesetze vereinbart. Popper vermutet, dass Platon den Grund des Verfalls in der rassischen Degeneration sieht, über die der sittliche und schließlich der politische Verfall ausgelöst wird. So mag Platon geglaubt haben, dass ein großer Gesetzgeber einen Staat schaffen kann, der sich politisch nicht verändert – dies wäre dann der vollkommene Staat, versteinert in dem Status, zu dem er eingerichtet wurde.

III

Dieser Unterschied zwischen Platon und Heraklit führt aber laut Popper auch zu einer Gemeinsamkeit zwischen den beiden, nämlich: Sie glauben beide an Gesetze anstatt an das Chaos und trösten sich dadurch über den Verlust der Stabilität hinweg. Popper interpretiert das als Ausweichen vor den letzten Konsequenzen des Historizismus und sieht das als charakteristisch für viele dieser Lehren.

Beide, Platon und Heraklit, verallgemeinern ihre Erfahrung der sozialen Veränderung auf alle Dinge. Bei Platon führt dies zu seiner bekannten „Ideenlehre“, in der er davon ausgeht, dass jedes Ding in unserer Welt eine vollkommene und unveränderliche Entsprechung in der Welt der Ideen hat, und das jedes der Dinge in unserer Welt sich über die Zeit von diesem vollkommenen Ding qualitativ entfernt, also verfällt. Popper sieht es als nicht konsequent an, dass Platon die Möglichkeit eröffnet, diesen Verfall aufzuhalten.

IV

Popper führt den Begriff der Sozialtechniker quasi als Gegenpol zu den Historizisten ein. Sozialtechniker gehen davon aus, dass der Mensch Ziele und Geschichte durch eigene Anstrengung formen kann. Dies wird erreicht durch die Einrichtung von politischen Institutionen, die auf wissenschaftlicher Basis Entscheidungen über das Vorgehen innerhalb einer Gruppe von Menschen treffen. Aber innerhalb der Sozialtechnik gibt es bedeutende Unterschiede der Vorgehensweise, Popper unterscheidet beispielsweise die „Sozialtechnik der kleinen Schritte“ und die „utopische Sozialtechnik“, wovon er erstere befürwortet und letztere ablehnt.

Die Historizisten beurteilen Institutionen eher auf der Basis ihres Ursprungs, ihrer Geschichte und Entwicklung, da diese ja dem Plan des Schicksals entsprechen, und weniger anhand der Ziele einer Institution. Darum werden sie versuchen aus der Geschichte einer Institution darauf zu schließen, welche „wahre Rolle“ ihr vom Schicksal zugedacht ist.
Sozialtechniker hingegen beurteilen Institutionen danach, ob sie der Erreichung der gesetzten Ziele dienen und interessieren sich weniger für Ursprung, Geschichte und Entwicklung. Sie setzen also die Rolle voraus und messen dann die Institution auf „Eignung, Wirksamkeit und Einfachheit“. Dabei werden sie nie davon ausgehen, dass der Zweck eine unabdingbare Eigenschaft der Institution ist, der Zweck bestimmt nicht das Sein der Institution.

Es gibt allerdings typische Mischformen von Sozialtechnik und Historizismus. Hier mischen sich vordergründig von Sozialtechnik geprägte Institutionen mit Zielen, die historizistischen Überlegungen entsprechen. Das früheste Beispiel macht Popper bei Platon aus. Platon betrachtet die Institutionen mit dem Ziel, den vorgezeichneten Verfall aufzuhalten. Er versucht dies durch die Errichtung des vollkommenen Staates, der seine ursprüngliche Form in der Vergangenheit hat. In einem „Goldenen Zeitalter“ existierte dieser ideale Staat und ist zwangsmäßig über die Zeit immer weiter verfallen. Dies lässt sich „auf seine allgemeine Philosophie ‚aller Dinge’ ausdehnen, auf seine Lehre von den Formen oder Ideen.“ (Popper, Hervorhebung im Original)

V

Hier erklärt Popper Platons Ideenlehre. Die schon angesprochenen, vollkommenen Dinge nennt Platon „Form“, „Modell“ oder „Idee“. Sie sind dabei keine geistigen Produkte, sondern existieren wirklich, allerdings in einer von uns getrennten Welt außerhalb von Raum und Zeit. Die Dinge dieser anderen Welt sind perfekt und unveränderlich, also nicht dem Verfall unterworfen. Wir können diese Formen oder Ideen nicht mit unseren Sinnen erfassen, aber trotzdem muss diese Welt mit der unseren in irgendeiner Verbindung stehen, da unsere Dinge ja von den ursprünglichen Ideen abstammen, aus ihnen entstanden sind und ihre Namen tragen. Im Timaios nennt er die Verbindung zwischen den Welten einen „Behälter“ und die Entstehung unserer vergänglichen Dinge vergleicht Platon mit der Zeugung beim Menschen. Die Idee entspricht dem Vater, der Raum, in dem die Dinge entstehen, also der „Behälter“, ist die Mutter, und die erzeugten Dinge sind die Kinder.

Popper vergleicht dieses Verständnis mit dem Götterglauben im damaligen Griechenland. Dort sind einige der Götter idealisierte Versionen bestimmter Eigenschaften, und manche Stämme und Familien führten ihre Herkunft auf bestimmte Götter zurück. Allerdings macht er hier auch einen entscheidenden Unterschied aus: In Platons Ideenlehre kann es für den Menschen nur ein einziges Ursprungsbild geben, nicht mehrere Götter, sondern nur eine Idee. Gäbe es mehrere vergleichbare Ideen, hätten diese eine übergeordnete Ursprungsidee, die dann das eigentliche Ideal darstellt.
Im Staat, der vor Timaios entstanden ist, spricht Platon davon, dass Gott diese Ideen erzeugt hat, und hätte er mehrere gleiche erzeugt, entstünde daraus eine übergeordnete, wesentliche Form, die dann die eigentliche Form darstellt.
Nach Platon haben auch einzelne Eigenschaften eine eigene Ursprungsidee, wie zum Beispiel die Weiße oder die Härte. Die Dinge in unserer Welt haben dann Anteil an diesen Ideen, sind somit weiß oder hart und daraus leiten sich ihre Ähnlichkeit ab.

Die Verbindung dieser Theorie der Ähnlichkeiten zum Historizismus ist nun nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Popper erklärt das folgendermaßen:
Parmenides, einer von Platons Vorgängern, der ihn wesentlich beeinflusste, hatte schon von einer unveränderlichen Welt gesprochen, die wir durch Vernunfterkenntnis erschließen können, die aber keine wirkliche Verbindung zu unserer Welt hat, und keine Erklärungen für unsere Welt bietet. Das Fehlen dieser Verbindung und der möglichen Erklärung stellte Platon nicht zufrieden. Er wollte gesichertes Wissen über die Dinge erlangen und daraus Erklärungen ableiten. Da die Dinge in unserer dynamischen Welt sich ständig verändern, sah er es als unmöglich an, allgemeingültige Aussagen über diese Dinge zu treffen, die nicht bloße Meinung wären.
Aristoteles erzählt, dass Platon hier Hilfe in Form eines Hinweises von Sokrates erhielt. Sokrates war bekannt dafür, Menschen mit seinen Fragen zu belästigen, wie ein Kind, das immer wieder „Warum?“ fragt. Er war nie zufrieden, wenn jemand sagte, eine Handlung sei richtig, weil sie weise, wirksam, gerecht oder fromm ist. Er fragte dann immer, was denn z. B. „weise“ bedeutet, was, wie Aristoteles sagt, das Wesen der Weisheit sei. Somit war Sokrates der erste, der universelle Definitionen zum Gegenstand des Denkens machte. Es gibt allerdings keine Hinweise, dass Sokrates diese Begriffe nicht als bloße Verstandesbegriffen, sondern als wirklich existierende Dinge sieht.
Die Theorie der Formen oder Ideen, mit der Platon dann diesen Schritt geht, hat nach Popper drei Funktionen:

1.     sie ermöglicht wissenschaftliche Erkenntnisse über die Dinge, anstatt bloßer Meinung

2.     sie ermöglicht es, eine Theorie der Veränderung aufzustellen, also Prozesse zu beschreiben

3.     sie erlaubt es eine Sozialtechnik zu entwickeln, welche diese Veränderung aufhalten kann