Hacking The Poverty Line - Gibt es wirklich weniger Armut?
14.05.2021
Ich höre immer wieder diese Geschichte, die Armut hätte ja abgenommen, wir sollen uns also nicht beschweren über die Globalisierung, den Freihandel, den Kapitalismus... All das wäre schließlich dafür verantwortlich, dass die Armut abgenommen hat. Das wäre ja schön, das Problem ist nur: Diese Geschichte ist falsch.
Foto: abhishek goel
Der erste Ansatz, global das Problem des Hungers (und damit indirekt der Armut) anzugehen, war 1996 auf dem World Food Summit in Rom.
Dort wurde beschlossen, bis 2015 die Zahl der Menschen, die an Unterernährung leiden zu halbieren.
Im Jahr 2000 gab es dann die "Millenium Declaration" der UN. Dort wurde beschlossen, den Prozentsatz der Menschen, die unter Armut und Hunger leiden zu halbieren. Das ist schon ein statistischer Trick, denn da die Bevölkerung wächst, könnten genausoviele oder sogar mehr Menschen an Armut und Hunger leiden, die Ziele wären trotzdem erreicht. Klar kann man sagen: Besser als das Problem einfach komplett zu ignorieren, denn dann würden die Zahlen relativ und absolut steigen. Aber andersherum ausgedrückt bedeutet das: Das Leiden wurde nicht reduziert, nur stabil gehalten oder sogar erhöht.
Aber das Goal-Hacking ging noch weiter. Bei der Formulierung der Millenium Development Goals wurde die Berechnung wieder geändert: Der Anteil der Armen und Hungernden in den Entwicklungsländern sollte halbiert werden. Da besonders in diesen Ländern die Bevölkerung stark wächst, ist es noch einfacher die Ziele zu erreichen, ohne die Anzahl der tatsächlich Armen zu reduzieren. Außerdem wurde der Startzeitpunkt der Berechnung von 2000 auf 1990 (also in die Vergangenheit!) vorverlegt, was es erlaubte, die bereits geschehene Reduzierung der Armut mit einzuberechnen. Dieser Trick war sehr effektiv, da in den 1990ern in China hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt wurden.
In Zahlen: mit den Millenium Declaration wäre es eine Reduzierung um 669 Millionen Menschen gewesen, mit den Millenium Development Goals nur noch 490 Millionen Menschen. Die Zahl der in Armut und Hunger lebenden könnte so sogar um 323 Millionen Menschen steigen!
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Argumentation, Freihandel und Kapitalismus hätten die Armut reduziert. Gerade in China und Ost-Asien herrscht eben keine freie Marktwirtschaft nach Weltbank- und IMF-Geschmack.
Neben der Berechnungsmethode wurde noch an anderen Stellschrauben gedreht. In den 90ern legte die Weltbank die Armutsgrenze (International Poverty Line / IPL) bei $1,02/Tag fest. 2000 erklärte die Weltbank dann in einem Report, dass auf dieser Grundlage die Anzahl der Armen von 2000 bis 2015 um 4 Milliarden Menschen weltweit ansteigen würde. Von 1987 bis 2000 waren die Zahlen bereits von 1,2 auf 1,5 Milliarden Menschen gestiegen.
2000 wurde der Schwellwert von $1,02 auf $1,08 angehoben, um den Effekt der Inflation enfließen zu lassen. Allerdings hätte der neue Wert bei korrekter Berechnung der Inflation höher ausfallen müssen. Somit reduzierte sich die Zahl der armen Menschen quasi über Nacht - in realer Kaufkraft allerdings war der Wert nicht erhöht sondern verringert worden, was bedeutet, dass Menschen die vorher als arm galten, plötzlich nicht mehr arm waren, obwohl sich an ihrer Lebensrealität nichts geändert hatte.
2008 wurde der Schwellwert erneut (rückwirkend auf 2005) angepasst, auf $1,25. Das hatte zwar zur Folge, dass die Zahl der Armen insgesamt wieder anstieg (um 430 Millionen Menschen), aber Trendlinie insgesamt sah besser aus, und die Zahl der 2005 aus der Armut "Geretteten" erhöhte sich um 121 Mio.
2015 wurde dann der IPL Schwellwert auf $1,90 angehoben, was die Anzahl der weltweit in Armut lebenden auf 700 Mio. Menschen festlegt. Die UN beziffert allerdings die Zahl der Menschen unter Nahrungsunsicherheit mit 1,5 Billionen und der Unterernährten mit 2,1 Billionen. Wie können diese Zahlen deutlich höher liegen, als die Armutszahlen? Hieraus kann man bereits ableiten, dass die Armutszahlen objektiv falsch sein müssen.
An einem global einheitlichen Armutsschwellwert gibt es außerdem sehr viel Kritik, da dieser Zahlenwert selbst nicht die realen Lebensverhältnisse der Personen abbildet.
Es gibt beispielsweise den Fall, dass Familien mit einem kleinen Stück Land und einer Ziege ein auskömmliches Leben bestreiten können, während sie nach der Statistik in Armut leben. Durch neue Gesetze wurden diese Familien gezwungen das Land und die Ziege zu verkaufen, und bezahlte Arbeit anzunehmen, mit einem Tageslohn über der Armutsgrenze. Während sich die Lebensbedingungen objektiv verschlechtert haben, ist die Familie aus der Armutsstatistik herausgefallen. Hierbei handelt es sich nicht um statistisch irrelevante Einzelfälle, sondern um systematische Probleme, z. B. bei der Einführung eines "Kontozwanges". (Leider finde ich die Quelle zu dem Beispiel nicht mehr. Wird nachgeliefert, wenn ich sie wieder finde.)
Ein richtiger Schwellwert für Armut kann also nicht auf einen einfachen Dollarwert reduziert werden, bzw. muss mehr Faktoren einbeziehen, selbst nach der Kaufkraftbereinigung. Von verschiedenen Ländern selbst durchgeführte Armutsstudien kamen zu teils viel höheren Zahlen als durch die IPL berechneten:
- Sri Lanka, 1990: 40% nach Studie, 4% nach IPL
- Mexico, 2010: 46% nach Studie, 5% nach IPL
Volkswirtschaftliche Auswirkungen zeigen außerdem, dass aus Entwicklungsländern mehr Geld abfließt, als durch Entwicklungshilfe in die Länder gepumpt wird - die Bilanz ist also negativ. (z. B. Eswar S. Prasad - The Dollar Trap [Amazon]) Unter diesen Voraussetzungen ist der Kampf gegen Armut natürlich deutlich erschwert. Die Gründe hierfür sind vielfältig, prinzipiell liegt es aber an einer komplett verfehlten Entwicklungshilfe und eben dem Freihandel, der es den Ländern erschwert Schutzzölle einzuführen und lokale Produzenten vor Billigimporten z. B. aus Europa zu schützen.
"Armut" ist ein viel komplexeres Thema, als durch eine einfache Kennzahl abzubilden ist. Man muss, besonders in den Entwicklungsländern, die Vorgänge während des Imperialismus und auch der nachfolgenden Globalisierung mit in Betracht ziehen. Unter dem Strich kann man sagen, dass die Armut in absoluten Zahlen auf keinen Fall so stark gefallen ist, wie beispielsweise Bill Gates, Steven Pinker und Jordan Peterson behaupten. Heute leben genausoviele oder sogar mehr Menschen in Armut im Vergleich zu 1990.
Wer sich diesem Thema eingehender widmen möchte, dem empfehle ich die Bücher "The Divide" von Jason Hickel (Amazon) und "The Dollar Trap" von Eswar S. Prasad (Amazon). Die meisten der Informationen in diesem Blogpost stammen aus Hickels Buch. Ebenfalls zu empfehlen sind die Bücher und Interviews mit Jean Ziegler.
Jason Hickels Blog: A letter to Steven Pinker (and Bill Gates, for that matter) about global poverty
Außerdem einige Folgen des Podcasts "Citations Needed":
- 58: The Neoliberal Optimism Industry
- 45: The Not-So-Benevolent Billionaire (Part I) — Bill Gates and Western Media
- 46: The Not-So-Benevolent Billionaire (Part II) — Bill Gates in Africa